: Jugoslawiens Historiker kamen nur bis 1800
HISTORIOGRAPHIE Marie-Janine Calic räumt in die „Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert“ mit dem Mythos auf, die sozialistische Föderation sei unerwünscht und künstlich gewesen
Die auf mehrere Bände angelegte „Geschichte der Völker Jugoslawiens“ kam nur bis zum Jahre 1800. Kroatische, serbische und bosnische Historiker verbissen sich bereits in den 1970er Jahren derart in Kontroversen um die Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts, dass die monumentale historische Gesamtdarstellung scheiterte, so wie auch die „Enzyklopädie Jugoslawiens“ nie an ihr Ende gelangte. Die jugoslawische Historiographie genießt aus diesem Grund keinen besonders guten Ruf. Sie gilt als Spiegel nie überwundener ethnischer Identitäten in der sozialistischen Föderation Jugoslawiens.
Doch der Staat scheiterte nicht an jahrhundertealten völkischen und religiösen Trennungen, sondern daran, dass ökonomische, sozialkulturelle und machtpolitische Konflikte kulminierten, die in ethnonationale Kategorien uminterpretiert wurden, schreibt Marie-Janine Calic in ihrer sehr lesenswerten „Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert“. Die Münchner Geschichtsprofessorin räumt mit dem Mythos auf, Jugoslawien sei ein künstliches Gebilde gewesen, das der heterogenen Bevölkerung Homogenität auferzwungen hätte. Calic zeigt, wie die spezifischen Konstellationen und Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs dazu führten, dass viele Menschen die Entstehung des supranationalen Staates begrüßten und bis weit in die 1960er Jahre in hohem Grad verteidigten. Die Verheißungen eines besseren Lebens konnten durch Industrialisierung, urbane Kultur, Bildung, Mobilität und moderne Massenkommunikation erfüllt, Toleranz durch kosmopolitische Einstellungen gefördert werden. Doch die kulturelle Liberalität Jugoslawiens wurde zum Verhängnis, als die Wirtschaft den internationalen Anschluss nicht fand und angesichts einer dramatischen Staatskrise ein Machtvakuum entstand, in dem sich Nationalisten und Kriminelle ausbreiten konnten.
Calic schafft es, die komplizierte jugoslawische Geschichte komprimiert und facettenreich darzustellen, auch weil sie Gründung, Bestehen und Zerfall Jugoslawiens in die globale Geschichte wirtschaftlicher, politischer und sozialpsychologischer Entwicklungen einbettet und sich nationalistische Sichtweisen nicht zu eigen macht.
Diese Objektivität fehlt der Historiographie in den ehemaligen Ländern Jugoslawiens noch heute. Deshalb ist es wenig erstaunlich, dass ein anderes wichtiges Buch, das des Belgrader Soziologieprofessors Todor Kuljic „Umkämpfte Vergangenheiten“, nun zuerst auf Deutsch erscheint. Kuljic versucht, die Verbrechen der 1990er Jahre abseits nationalistischer Schuldabwehr aufzuarbeiten und setzt sich mit der Erinnerungspolitik der postjugoslawischen Staaten auseinander. Eine Arbeit, die dringend notwendig ist, um die dort immer noch weit verbreiteten kollektiven Affekte aufzuweichen.DORIS AKRAP
■ Marie-Janine Calic: „Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert“. C.H. Beck, München 2010, 415 Seiten, 26,95 Euro ■ Todor Kuljic: „Umkämpfte Vergangenheiten. Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum“. Übersetzt von Margit Jugo. Verbrecher Verlag, Berlin 2010, 184 Seiten, 28 Euro
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