Immer für eine Affäre gut

BIOGRAFIE I Das Interesse am Publizisten Sebastian Haffner lässt nicht nach. Der Historiker Jürgen Peter Schmied scheitert allerdings beim Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung

Mag Schmied auch auf archivalische Quellen zurückgreifen, verzichtet er doch auf das, was Wissenschaft ausmacht: methodische Reflexion

VON ANDREW JAMES JOHNSTON

Ich war ein sehr politisches Kind“, entgegnete Sebastian Haffner einmal Stefan Heym, als dieser bezweifelte, dass der 1907 geborene Autor schon als Knabe die Politik des Kaiserreichs beurteilen konnte. Tatsächlich ist Haffner – eigentlich Raimund Pretzel – immer eine Art politisches Kind geblieben, besaß er doch die kindliche Gabe, Perspektiven unbekümmert zu wechseln und Gedankengänge bis ins Absurde durchzuspielen. Intellektuelle Unabhängigkeit, Offenheit und Neugier machen neben seinem brillanten Stil die Faszination aus, die noch immer von ihm ausgeht.

Von links nach rechts

In der Weimarer Zeit begann er als Romancier, unter Hitler war er Feuilletonist. 1938 emigrierte er mit seiner jüdischen Partnerin nach England, wo er schnell Starkolumnist beim Observer wurde. Nach Konflikten um die Richtung des Blattes kehrte er 1954 als Korrespondent nach Berlin zurück, ging als Kalter Krieger zur Springer-Presse, bis sein dramatischer Fernsehkommentar in der Spiegel-Affäre zum Sturz von Verteidigungsminister Strauß beitrug. Danach schrieb er für Stern und konkret, unterstützte die Studentenrevolte, kämpfte für eine neue Ostpolitik und veröffentlichte historische Bücher zur Revolution von 1918/19 oder zum Ersten Weltkrieg.

Ab den 1970ern schwenkte er mit den Anmerkungen zu Hitler und Preußen ohne Legende wieder nach rechts. Das erste Buch wirft einen fast amoralischen Blick auf den Diktator, das zweite skizziert liebevoll Preußens kurze Geschichte, die für Haffner 1871 endet: Als Preußen im Reich aufging, verlor es seinen Charakter. Beide Bestseller machten das zeitweilige Enfant terrible zum Idol des Bildungsbürgertums. Sein größter Wurf glückte ihm jedoch mit den 1939 verfassten, aber erst posthum entdeckten und gedruckten Memoiren seiner Jugend (1914–1933). Die sensible und hellsichtige Darstellung beförderte ihn vollends zum publizistischen Klassiker und löste eine regelrechte Haffner-Welle aus, bei der auch erste Biografien entstanden.

Ein junger Historiker aus Bonn, Jürgen-Peter Schmied, legt nun eine erklärtermaßen wissenschaftliche Lebensbeschreibung Haffners vor. Schmied will dessen Werk vor dem Hintergrund der Zeit erläutern, die alte biografische Frage stellen: „What made him tick?“, und Haffners „Erfolgsgeheimnis lüften“. Dies gelingt ihm jedoch nicht. Zwar stellt er Haffners Leben und Schreiben ausführlich dar, der Zeithintergrund aber bleibt blass. Die Informationen beschränken sich auf grobe Skizzen der politischen Ereignisse, und die Frage „What made him tick?“ beantwortet Schmied mit Haffners Persönlichkeit, mit dessen Neigung zu Widerspruch und Provokation, was keine wirkliche Erklärung ist.

Vor allem aber durchziehen das ganze Buch zwei Vorwürfe: Erstens stimmten Haffners Urteile, beispielsweise solche von 1941, mit dem heutigen Stand historischer Forschung oft nicht überein; zweitens fehle es ihm an einer festen „Weltanschauung“, wie Schmied es nennt. Beide Kritikpunkte sind aus wissenschaftlicher Perspektive allerdings uninteressant. Historiker sind nicht dazu da, Noten für ideologische Festigkeit zu verteilen.

Englische Prägung

Überhaupt erweist sich der fachwissenschaftliche Gestus des Buches als zwiespältig. Mag Schmied auch auf archivalische Quellen zurückgreifen, verzichtet er doch auf das, was Wissenschaft ausmacht: methodische Reflexion. Das ist schade, denn Historiker und Literaturwissenschaftler haben sich durchaus Gedanken zur Theorie der Biografie gemacht.

Auch andere relevante Perspektiven übersieht Schmied. Für Haffners Tendenz zur historischen Spekulation etwa hätte die Diskussion um kontrafaktische Gedankenexperimente in der Geschichtsschreibung interessant sein können. Und die Erkenntnisse der Exilforschung wären nicht allein für Haffners anderthalb Jahrzehnte in England, sondern auch für die Jahre danach wichtig gewesen. Haffners englische Prägung, die ihn überhaupt erst zum politischen Journalisten machte, spürt man nämlich selbst im Spätwerk bis in seinen Stil hinein, in der rhythmischen Prosa und den aphoristischen Statements. Wer Haffner aufmerksam liest, wird das Gefühl nicht los, dass sein Exil zur zentralen Erfahrung wurde, zu einer Erfahrung, die es ihm leicht machte, Standpunkte zu wechseln, weil sie es ihm zugleich schwer machte, eindeutige Identitäten zu beanspruchen.

Schmieds fleißige Biografie beschränkt sich jedoch darauf, den bösen linken Haffner gegen den guten rechten auszuspielen und die Widersprüche Haffners larmoyant zu protokollieren, anstatt sie analytisch zu befragen.

Jürgen Peter Schmied: „Sebastian Haffner: Eine Biographie“. C. H. Beck, München 2010, 683 S., 29,95 Euro