Wie lange währt „ehrlich“?

Hassobjekt, weil er nicht mehr lügen wollte: Ungarns Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány hat nur zugespitzt, was seine europäischen Amtskollegen nicht mal andeutungsweise zugeben würden

VON JAN FEDDERSEN

In die Bilder von brennenden Häusern und wütenden Menschen ist – wie bei jeder Form von Gewaltdarstellung – die Lust am Körperlichen eingeschrieben, die nicht mehr stillhalten will, sondern nach Ergebnissen strebt: Irritierend für das gewöhnliche TV-Publikum in Europa sind die Filmschnipsel aus Budapest allerdings nur deshalb, weil sie eben in der ungarischen Hauptstadt generiert worden sind, nicht im Kosovo, Libanon oder im Irak.

Der Grund der Proteste verstört freilich mehr als die Flut der Sequenzen aus Entflammtem selbst: Ein Ministerpräsident zieht den Hass auf sich, weil er in einer nichtöffentlichen Rede bekennt, als Regierungschef versagt zu haben: „In den letzten Jahren wir nur gelogen.“ Dies aber müsse nun aufhören, solle sein Land, Ungarn eben, aus seiner ökonomischen Krise mit besserer Zukunftsperspektive hervorgehen.

Brutale Sparerei

Seit Gyurcsánys Wahlsieg im April haben seine Partei, die Sozialisten, wie die Liberalen als Koalitionspartner auf brutale Sparerei gesetzt: Die Heizungspreise müssen erhöht werden, weil der Staat sie nicht mehr subventionieren wolle; Arztbesuche sollen durch die Zahlung einer Praxispauschale eröffnet werden – und angehende Akademiker sollen mit Studiengebühren rechnen. Kurzum: eine Reaktion auf die gewöhnliche Haushaltskrise eines Landes, das über Rohstoffe nicht verfügt und seine ökonomische Bedeutung nicht mehr, wie in realsozialistischen Zeiten, aus der Gewissheit zieht, dass der Große Bruder Sowjetunion seine Rohstoffüberfülle den Alliierten nicht zu Weltmarktpreisen zukommen lassen wird.

Der Ministerpräsident war also, wenn auch spät, tatsächlich ehrlich – wissend, dass ihn das sein Amt kosten könnte bei den nächsten Wahlen. Der Protest gegen ihn ist allerdings keiner gegen seine Nichtwahrheiten, auch nicht gegen die Hilflosigkeit, die Krise. Sondern einer gegen die Desillusionierung und die Drohung, sie nicht weiter zu kultivieren.

Politiker, beispielsweise, deutscher Provenienz könnten aus Gyurcsánys Einlassungen lernen, aus aktuellem Anlass auch bei der Frage, weshalb die Völkischen (NPD, DVU) Erfolg haben. Denn die Wut auf den ungarischen Sozialdemokraten war ja auch eine antisemitisch, nazistisch gestimmte; Polizisten, die öffentliche Gebäude schützten, wurden als „Judenschweine“ beschimpft: Noch Fragen zum Thema „Den Protest auf die Straße tragen“?

Der Unterschied zwischen, sagen wir: Chirac und Merkel einerseits und Gyurcsány andererseits ist einer der Offenheit. Wie wäre es denn, würde die Kanzlerin in Vorpommern oder in der Sächsischen Schweiz eine Rede halten, die da Folgendes auf den Punkt brächte und mit der alle gemeint sein müssten: Wer auf industrielle Arbeit sich verlässt, hat im Kampf um ein gutes Ranking bei der Globalisierung der Ökonomien schon verloren; wer in der Schule lieber rumhängt statt so etwas wie Ehrgeiz zu entwickeln, muss sich nicht wundern; wer glaubt, umsonst studieren zu dürfen, zugleich aber hinnimmt, dass Kindergärten teuer Geld kosten, ist nicht ernsthaft am gesellschaftlichen Aufstieg interessiert; wer meint, alles müsse wie in einem realsozialistischen Paradies vollumfänglich gesponsert werden, vor allem die privaten Umstände (Heizung, Miete, Medizin), weiß nicht, dass dafür die eigene Ökonomie nicht den Stoff hergibt. Merkel könnte auch noch dies betonen: Am liebsten wäre ihr ein Schlaraffenland rund um die Uhr für alle – aber dies sei nicht finanzierbar.

In der Braunen Zone

Gyurcsány hat betont, dass, wer sich ein Auto kaufe, ja auch nicht davon ausgehen könne, dies würde vom Staat alimentiert – weshalb dann für alle Medizin? Merkel könnte in den deutschnationalen Zonen der Republik außerdem anfügen, dass der Staat keine Planstellen vergibt und Jobs nur Unternehmen anbieten – aber die wollen partout nicht in diese Gegenden, nach der per Wahlresultat ersichtlichen bräunlichen Grundierung erst recht nicht. Vielmehr in die Ukraine oder Moldawien oder andere Länder der lohnbilligen Nicht-EU – die sind in puncto Produktionskosten günstiger.

All diese Regierenden hätten zu sagen, dass Europa keine Rohstoffe hat, anders als Russland, und deshalb auf unsere rohstoffverschlingenden Industrien kein Verlass mehr sein kann. Das wird Leid bringen, Trostlosigkeit – aber mit Schuldenaufnahmen würde das Problem nur verschoben, nicht gelöst.

Merkel und Konsorten würden solche Ansprachen niemals halten – täten sie es, wäre Budapest nur der erste Ort eines europäischen Brandes. Was aus ihm folgt, ist offen. Gyurcsány war so aufrecht, auch dies zu sagen: „Wir wissen keine Lösung.“