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„Ein Restrisiko bleibt immer“

Die Psychologen Anne Loschky und Fridolin Sickinger helfen als Erziehungsberater Eltern und ihren Kindern bei Problemen. Manchmal sind diese so gravierend, dass ihre Arbeit zur Gratwanderung wird

Interview: Eiken Bruhn

taz: Sie arbeiten in einer staatlichen Erziehungsberatungsstelle, zunehmend auch mit denen, die jetzt „Problem-Familien“ genannt werden. Ist das Therapie für Arme?

Fridolin Sickinger: Ja, es wäre borniert zu sagen, diese Menschen bräuchten das nicht.

Anne Loschky: Wenn ich weiß, da ist eine kritische Situation, dann muss ich doch therapeutisch arbeiten, also auf die Situation einwirken. Es reicht doch nicht, diese nur zu beobachten…

und wenn sie kippt, die Kinder herauszunehmen?

Sickinger: Wenn, das notwendig ist, ja, aber sie können nicht auf jede chronisch schlechte Situation mit Fremdunterbringung reagieren. Da müssten Sie in manchen Stadtteilen ganze Häuserblocks evakuieren. Wir müssen uns anstrengen mit diesen Familien zu arbeiten – wenn sie die Entwicklungschancen haben.

Woher weiß man, ob es die gibt?

Das ist immer eine individuelle Entscheidung. Das Problem dabei ist, dass sich eine Familiensituation sehr schnell verändern kann, in beide Richtungen. Eine Frau beschützt ihr Kind vielleicht 23 Stunden und 59 Minuten am Tag wie eine Löwin, aber dann kommt eine Minute, in der sie eine Kleinigkeit aus der Bahn wirft. Wir oder die Sozialarbeiter gehen deshalb ein permanentes Risiko ein. Schafft sie die eine Minute oder schafft sie sie nicht. Wenn man zu früh eingreift, unterbindet man mögliche positive Entwicklungen, wenn man zu spät kommt…

stirbt im schlimmsten Fall ein Kind. Haben Sie schon einmal zu spät reagiert?

Sickinger: Noch nie so, dass Leib und Leben in Gefahr waren. Es ist vorgekommen, dass Kinder recht schnell aus ihrer Familie herausgenommen wurden.

Wie vermeidet man Fehler?

Sickinger: Ein Restrisiko bleibt. Aber Sie können ein Arbeitsumfeld schaffen, das die Fehlerquote minimiert.

Wie?

Sickinger: Man braucht eine Struktur im Hintergrund, die einen davor schützt, auszubrennen. Sobald Sie mit dem Gefühl zur Arbeit gehen, „das ist alles viel zu viel, es wird ja doch nur alles schlimmer“, haben Sie verloren. Wir können uns diesen Halt geben, jedenfalls so lange keiner von uns dreien krank oder im Urlaub ist. In vielen anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes wurde allerdings so wenig investiert – und zwar sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht – dass viele ihren Job gar nicht mehr so machen können, wie sie es vielleicht wollen.

Anders als das Jugendamt haben Sie weniger eine kontrollierende als eine beratende Funktion. Was können Sie leisten?

Sickinger: Wir sind für die Familien da, auch für einzelne Familienmitglieder, Kinder und Jugendliche können ja auch alleine kommen. Es geht darum, sie beim nächsten kleinen Schritt zu unterstützen und ihnen klar zu machen, dass wir darauf vertrauen, dass sie ihn schaffen.

Keine großen Sprünge?

Sickinger: Nein, das mussten wir auch erst lernen. Veränderung ist für uns Mittelschichtler ein ganz tolles Konzept – diese Menschen empfinden sie als Bedrohung.

Warum?

Sickinger: Weil ihr Leben ein einziges Auf und Ab ist, deshalb nennen wir sie auch „Grenzgänger“. Stellen Sie sich eine 25-jährige Alleinerziehende mit zwei Kleinkindern vor. Die wurde als Kind geschlagen, vielleicht sexuell missbraucht, war im Heim, hat die Schule abgebrochen, ist früh schwanger geworden, wurde kurz nach der Geburt vom Vater des Kindes verlassen, der Nächste hat sie geschlagen und war dann weg, zwischendurch hat sie Drogen genommen und war bulimisch. Hinzu kommt Armut, die weitere Unsicherheiten nach sich zieht, wenn zum Beispiel der Strom abgestellt wird.

Loschky: Das bedeutet auch für die Kinder, dass es jeden Tag andere Regeln gibt. An einem Tag kriegen sie eins auf die Flossen, wenn sie an den Kühlschrank gehen, weil kein Geld da ist, am anderen Tag ist es okay.

Das klingt sehr hoffnungslos. Können diese Familien sich jemals ganz aus dem Schlamassel befreien?

Loschky: Nein, das habe ich noch nie erlebt. Es gibt aber immer mal einzelne Familienmitglieder, die es schaffen. Sie müssen sich vorstellen, dass diese Menschen einen Zustand nicht kennen, in dem es ihnen über einen längeren Zeitraum einfach gut geht. Das sind immer nur sehr kurze Momente oder Phasen, aber diese können länger werden, wenn man ihnen hilft.

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