Muße und Beschleunigung

VOLKSBÜHNE Martin Wuttke taucht mit „Trompe l’amour“ in das Romanuniversum von Honoré de Balzac ein

VON TOM MUSTROPH

Wem die eigene Zeit nicht mehr passt, der begibt sich auf Sinnsuche eben in eine andere. An der Volksbühne scheint nach der Dostojewski-Phase vor einer Dekade nun mit der gleich dritten Balzac-Verarbeitung dieser Saison (zuvor Castorf mit „La Cousine Bette“ und Pollesch mit „Glanz und Elend der Kurtisanen“) das 19. Jahrhundert munter wiederaufzuerstehen.

Auf einer feschen Kalesche, dem Protzporsche der damaligen Zeit, lässt Martin Wuttke sein Personal auf der Bühne vorfahren. Statt Pferden zerren Menschen daran herum, vielleicht weil Regisseur Wuttke den lokalen Assoziationsbogen zum Droschkenkutscherhelden „Eiserner Gustav“ scheute. Vielleicht waren Pferde auch einfach zu teuer. Dass man überhaupt darüber nachdenkt, liegt an der mageren Attraktivität der sehr maniriert wirkenden ersten Stunde der Aufführung.

Da verzetteln sich Jeanne Balibar als großäugige und kunstgelockte Kupplerin und Hendrik Arnst als brummbäriger liebestoller Bankier in dem Versuch, die wesentlichen Erzählstränge von „Glanz und Elend der Kurtisanen“, auf die sich nach Pollesch nun eben auch Wuttke bezog, auf die Bühne zu bringen.

Gefühlslandschaft

Künstlerisch gelungener war der Versuch, mit stehender Kutsche und vorbeifliegender Großbildprojektion auf drei Leinwänden in einen Geschwindigkeitsrausch zu geraten und dabei so unterschiedliche Welten wie frühlingshafte Wälder, kahles winterliches Gehölz und Ostberliner Plattenbaulandschaften zu durcheilen. Wuttke und sein Projektionsteam (Video: Jens Crull, Kamera: Andreas Deinert) erweisen sich hier als formidable Gefühlslandschaftsmaler, wie sie wohl auch nur das 19. Jahrhundert mit seinen Postkutschendurchschnittsgeschwindigkeiten von etwa 10 km/h hervorbringen konnte. Auf geradezu geniale Art verbindet Wuttke hier zwei eigentlich unvermittelbare Elemente wie Muße und Beschleunigung.

Enttäuschend hingegen ist, dass er danach den nicht nur an dieser Bühne längst ausgereizten Mitteln des Versteckens der Spieler, ihres Abfilmens und Liveprojezierens einen weiteren Versuch folgen lässt. Zumal das Ensemble diese Situation im Separée auch nur dazu nutzt, die Essenz allen Balzacschen Erzählens – Austauschbeziehung von Liebe und Geld – unverdaut in Kamera und Mikroarm zu blasen.

In seiner Romanwelt sind die Zyklen von gekaufter, verkaufter und wieder verkaufter Zuwendung Antriebskräfte der Gesellschaft. Das geht so lange gut, so lange „Wertsteigerungen“ durch Liebhaberhäufungen mit jugendfrischem Antlitz gedeckt bleiben. Als „Giftpapier“ im Keller können sich schon Transaktionen mit Über-23-Jährigen erweisen, wie sich am erschreckten Ausruf Britta Hammelsteins als Zofe der Kurtisane Esther ablesen lässt.

Wuttke malt mit Balzac ein exzentrisches Biotop aus, in dem die Lust an der Selbstzerstörung auf beide Geschlechter etwa gleich verteilt ist. Frauen erlangen selbstentfremdende Souveränität im kühlen Berechnen der Tarife der Liebe. Ein reicher Mann zählt nur als Mann, wenn er bereit ist, sein Vermögen für eine Geliebte zu zerstören.

Leuchtender Schein

Erst wenn diese diskursiven Weichen gestellt sind – oder Wuttke oder die Dramaturgin Anna Heesen glauben, dass diese Botschaft beim Publikum angekommen ist – beginnt das eigentliche Spiel: die Todesmomente des Bankiers, der Kurtisane Esther und des Geliebten Lucien. Vor allem die so kleine wie zarte und wie mit einer stählernen Feder gespannt wirkende Schauspielerin Jasna Fritzi Bauer fasst im Lebensabspann ihrer Figur die Härten des Daseins, die ihm listig gestohlenen Freuden und die Erkenntnis über die Grade des Selbstbetrugs auf eine Weise zusammen, die alles vorher Geschehene mit leuchtendem Schein versieht.

Und man beginnt zu bedauern, dass nach der Generalprobe das Dramaturgiemesser angesetzt und etwa zweieinhalb Stunden aus dem Spiel herausgeschnitten wurden. Jetzt hätte man weiterschauen, weiterhören, weiterbeben wollen. Durch den Schnitt ging auch die wohl schillerndste Figur des Balzacschen Romankosmos, der frühere Sträfling und spätere Polizeichef Jacques Collin alias Trompe-la-Mort, weitgehend verloren.

Wuttke hatte sich diese im Titel des Abends wiederkehrende Rolle selbst zugeschrieben. Nach der Generalprobe gab er sie auf. Einige Bruchstücke verblieben dem tapfer mit den Text kämpfenden Jean Chaize. Eine pikante Erinnerungsspur ans ursprüngliche Vorhaben stellt der Papierstreifen dar, den die Sträflinge des Theaterbetriebs des Nachts im Programmheft über Wuttkes Namen in der Besetzungsliste kleben mussten. „Trompe l’amour“ ist ein Steinbruch der Assoziationen, wenig gefügt, in seinem mortalen Ende aber überraschend vital.

■ Wieder am 27. 4. und 2. 5., 19.30 Uhr