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Archiv-Artikel

Das bisschen Glück

Ein freies Feld, überschattet von Trauer: Ulrike Edschmid erzählt von der Nachkriegszeit – der Roman „Die Liebhaber meiner Mutter“

Von OLIVER PFOHLMANN

Mütter stehen wieder hoch im Kurs, zumindest literarisch. Die Vorteile dieser Stoffwahl liegen auf der Hand: Wer das Leben der eigenen Mutter erzählt, hat nicht nur die Dignität der Wirklichkeit auf seiner Seite. Er kann Zeit- mit Familiengeschichte vereinigen und oft nebenbei ein Stück Autobiografie vorlegen. Im Frühjahr stützte sich Feridun Zaimoglu in seinem Roman „Leyla“ auf die Erinnerungen seiner Mutter, die in den Dreißigerjahren in Südostanatolien zur Welt kam und später nach Deutschland auswanderte. In diesem Herbst präsentiert F. C. Delius ein „Bildnis der Mutter als junge Frau“ im Jahr 1943. Und Ulrike Edschmid erzählt von einer (ihrer?) Mutter und ihren „Liebhabern“ im Nachkriegsdeutschland.

Die Berliner Autorin ist auf Geschichten von Frauen abonniert. Sie schrieb über die Frauen schreibender Männer und unter dem Titel „Frau mit Waffe. Zwei Geschichten aus terroristischen Zeiten“ über Astrid Proll und Katharina de Fries, danach über die Zeichnerin Erna Pinner. In ihrem neuen Roman stimmen die Lebensdaten der sich an ihre Kindheit und Jugend erinnernden Ich-Erzählerin mit denen der Autorin überein: Beide sind 1940 in Berlin geboren und in der Rhön aufgewachsen. Dort, auf einer abgelegenen Burg, hat die Mutter der Erzählerin (die wie die meisten Figuren des Romans namenlos bleibt) gegen Kriegsende mit ihren Kindern Zuflucht gefunden, zusammen mit anderen entwurzelten und geflohenen Menschen.

Das nach der Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung erwartbare Chaos bleibt an diesem Ort aus. Im Vergleich etwa zu dem Horrorszenario aus dem Tagebuch, das die Anonyma während der unmittelbaren Nachkriegszeit in Berlin führte, ist das Leben der Familie die reinste Idylle, der äußeren Not zum Trotz. Für die Kinder, deren Vater gefallen ist, bietet die Burg einen romantischen Spielplatz, für die Mutter einen Schutzraum, von dem aus sie die neugewonnene Freiheit nutzen kann. „Alles, so schien es, wäre in diesen Augenblicken möglich gewesen. Für das Neue aber, das meine Mutter empfand, gab es keine Übereinkunft, keine Geschichte, an die sie sich hätte halten, nichts, woraus Bilder von Zukunft hätten aufsteigen können. Ein freies Feld, in dem sie sich nicht zurechtfand, überschattet von Trauer.“

Bemerkenswert an dieser Frau, die sich und die Ihren mühsam von Webarbeiten ernährt, ist, wie lange sie sich die neue Unbestimmtheit ihres Lebens zu bewahren weiß. Wen immer die Mutter in der Folge kennenlernt: „Sie bestimmte, wann die Zeit um war.“ Immer wieder tauchen Männer auf, mit denen sie Beziehungen oder auch nur Freundschaften eingeht, die ihr und den Kindern eine Zukunft bieten wollen. Männer, für die die Bezeichnung „Liebhaber“ ebenso reißerisch wie euphemistisch ist.

Denn was der Krieg übrigließ, sind keine Helden, sondern gebrochene Naturen: wie der verängstigte, schwermütige Flötist, der Schmetterlinge sammelnde Hausarzt oder der einsam tanzende Wunderheiler. Dass sie alle den Willen der Mutter akzeptieren und dass es kaum zu ernsteren Konflikte zwischen ihnen und den Kindern kommt, ist gleichermaßen ungewöhnlich.

Fast scheint es, als wollten sich die Überlebenden nach all der Gewalt nur noch Gutes tun und hätten gar gelernt, fremde Leben zu respektieren. „Meine Mutter folgte einem Ziel, das noch keine Gestalt angenommen hatte“, heißt es in Edschmids behutsam-stiller Prosa, „sie ließ sich davon leiten, ohne zu wissen, wohin sie unterwegs war, und sie hielt daran fest mit einer Hoffnung ohne Grund.“ Beeindruckend ist diese Eigenwilligkeit, die sich nach all der Zeit des dem Schicksal Ausgeliefertseins das bisschen Glück und Selbstständigkeit nicht mehr aus den Händen nehmen lassen will.

Später, Mitte der Fünfzigerjahre, beginnt die Mutter sogar noch einmal ein Studium, nimmt abgerissene Fäden aus der Vorkriegszeit wieder auf. In dieser Phase ohne „Liebhaber“ setzt sie sich auch mit ihrem Leben in der NS-Zeit auseinander, als sie, die nie an Politik interessiert war, oft zu Hause auf ihren von Hitler begeisterten Mann, einen Architekten, wartete, der Zielen folgte, „die seine waren, nicht ihre“.

Da, in der Zeit des Wirtschaftswunders, sind die gesellschaftlichen Ordnungen längst wieder erstarrt, ebenso die Geschlechterverhältnisse. Ihr letzter „Liebhaber“ wird ein Konservator, ein Kopfmensch, der der Frau und ihren Kindern immer fremd bleibt. Warum ihre Mutter ausgerechnet bei ihm bleibt, weiß die Erzählerin dieses leise berührenden Buches nicht zu beantworten. Vielleicht ist es Resignation, vielleicht schon der Schatten, den ihre Krankheit zum Tode vorauswirft.

Ulrike Edschmid: „Die Liebhaber meiner Mutter“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 151 Seiten, 16,80 Euro