Schock in Schaum

Starkoch Ferran Adrià ist längst kein Koch mehr. Sondern Designer, Erlöser, Wundermann, Alchimist und Vampir

VON TILL EHRLICH

Einen Teller liebevoll zubereitetes Steinpilzrisotto zu verspeisen kann ein kontemplativer Vorgang sein. Man sieht und riecht, schmeckt und kaut, schmatzt und schluckt. Bissen für Bissen erschließt sich allmählich der Geschmack und fügt sich in sinnlicher Wahrnehmung zu einem inneren Bild. Es ist kein singulärer Augenblick, sondern die Aneinanderreihung vieler kleiner Geschmackserlebnisse in Form eher unspektakulärer Happen. Ein kulinarisches und zeitliches Verweilen, das andauert, bis wir wohlig die Gabel beiseite legen und uns in einem Zustand schwereloser Sättigung befinden – ohne das niederdrückende Gefühl der Völlerei. Aber auch ohne die Pein ungestillten Hungers.

Es gibt einen weltweit hofierten Koch, der genau das Gegenteil dieses kulinarischen Prinzips praktiziert. Ferran Adrià, Spanier und Katalane, transformiert nicht nur die Zubereitung der Speisen, er „dekonstruiert“ ihr tradiertes Aussehen. Der 46-Jährige serviert heißes Eis, kalte Suppen, heiße Gelees und essbare Schäume. Was wir als kalt erwarten, ist heiß, was flüssig sein sollte, ist fest – und umgekehrt. Gewöhnlich nimmt der orangerötliche Glanz des Lachskaviars die Erwartung einer salzigen Delikatesse vorweg. Doch statt fischiger Intensität nehmen wir am Gaumen Süße wahr – Adrià hat aus winzigen Melonenkügelchen Kaviar erzeugt. Aus salzig wird bei ihm süß. Oben ist unten und nichts mehr so, wie wir es kennen und insgeheim erhoffen.

Ein Menü von Ferran Adrià besteht aus 25 bis 30 Gängen und kostet etwa 170 Euro. Jeder Gang ist ein winziger Happen und die Steigerung des vorangegangenen. Jede kleine Köstlichkeit spannt den Gast auf die Folter. Adriàs Menüs funktionieren fast wie Horrorfilme, kennen Suspense, Schock und Special Effect. Adriàs Dramaturgie inszeniert bis ins letzte Detail ein kulinarisches Spektakel. Dabei spielt er mit unserer Erinnerung an Vertrautes in Geschmack, Farbe und Geruch. Zugleich spielt er Seh- und Geschmackserwartung gegeneinander aus.

Im Prinzip arbeitet Adrià fast nur mit Konzentraten, die er mit Hightech aus allen möglichen Produkten herstellt. So wird etwa ein frischer Hummer bester Qualität so lange gebrüht, zermahlen, erhitzt und gefroren, bis daraus einige Tropfen kostbaren Hummerkonzentrats entstehen. Eine Essenz, die Adrià dann in seiner Küche, die längst ein Labor ist, nach Belieben aufschäumt, schockfrostet oder pulverisiert. Später wird das Konzentrat wie Goldstaub serviert. Der Hummer ist so seines Volumens fast gänzlich beraubt und schmilzt auf der Zunge, wo er auf die Geschmacksknospen einwirkt wie ein scharfer Hieb. Als Blitz ohne Donner fährt er in den Körper. Jagt durch Venen und Nerven, hoch ins Hirn.

Auf eine Essenz folgt die nächste, eine Geschmacksexplosion der anderen. Der intensive Reiz, die Stimulation unserer Geschmackssensoren, muss dabei permanent gesteigert werden, denn nichts fürchtet die Inszenierung mehr als Innehalten oder Wiederholung. Doch weil es keine Speisen mehr sind, sondern künstliche Konzentrate, fehlt uns zum Erreichen wohliger Sättigung das Volumen. Die Essenz einer Karotte bietet zwar den ultimativen Kick, ersetzt jedoch nicht den geschmacksphysiologischen Vorgang des Zerbeißens und Kauens einer Karotte. Deshalb kriecht langsam ein Gefühl von Gier in uns hoch, für die wir uns sofort schämen. Statt über die minimalen Köstlichkeiten glücklich zu sein, machen sie uns unersättlich. Je länger wir uns den Künsten des Alchimisten Adrià aussetzen, desto dringender wollen wir den Hunger schnell und heftig befriedigen. Das Bewusstwerden dieser Triebhaftigkeit ist zugleich Pein. Überreizt, nicht erfüllt, verlässt man Adriàs Restaurant „El Bulli“.

Ferran Adrià wird als erster Koch auf der documenta 12 im kommenden Jahr in Kassel vertreten sein. Die Frage nach Adrià löst bei „Kochlust“, einer auf Kochbücher spezialisierten Berliner Buchhandlung, ein Raunen aus. Dreimal muss ich den netten Verkäufer sanft unterbrechen, weil ich das Werk für 180 Euro nicht auf Katalan mag, dessen ich nicht mächtig bin, leider, aber trotzdem das Schrifttum des Meisters studieren will. Ein Sakrileg. Das Alte Testament liest man im Original, im hebräischen Urtext, und Adrià liest man auf Katalan. Auf Deutsch habe er das Werk nicht vorrätig, ein deutsches Exemplar sei besonders schwer zu beschaffen und jede Auflage limitiert. Ob ich Koch sei, fragt er noch, es gebe jetzt überall Trittbrettfahrer, die Adrià kopieren wollten.

Allein die Bezeichnungen der Kreationen kündigen kulinarische Ereignisse der dritten Art an: Krokant aus Nori-Algen, Tintenfischpralinen, Campari-Ananas-Ravioli, Lutscher aus grünem Spargel, Rote-Bete-Suppe mit festem Öl und Joghurteispuder, kandierter und gefriergetrockneter Mais oder heiße Zitronengelatine mit Parmesan. Hier kommt zusammen, was nicht zusammengehört. Adriàs Kreationen sehen aus wie farbiges Glas, wobei man im Mund keine Glassplitter, sondern Geschmacksbomben hat.

Ob salzige Lollis, Puffreispaella oder gefriergetrocknete Suppen: Die Designs der essbaren Kreationen sind den künstlichen Welten der Patisserie und der Industrieprodukte frappierend ähnlich. Meister wie Paul Bocuse vertraten genau die gegenteilige Auffassung: Bocuse hatte seine Schüler immer ermahnt, nicht zu dekorieren, die Speisen „natürlich“ zu arrangieren. Bei ihm war das Raffinement stets das Ergebnis bester Zutaten und geschmacklicher Sublimierung. Es ging um Reduktion, nicht um Konzentration, Überwältigung oder schrilles Design.

Bislang waren Volumen und Fülle der Speisen ein fundamentaler Bestandteil der Gastronomie. Ferran Adrià ersetzt sie durch geschmackliche Intensität bei minimalstem Volumen. Indem er den Speisen das Volumen entzieht, wird ein Grundsatz der Gastronomie eliminiert. Mit fatalen Folgen: Weil Adriàs sensationelle Geschmacksschocks körperlos sind, bleibt dem Essenden die Erfüllung versagt.

Weil es um rhetorische Qualitäten geht wie Volumenentzug mittels Konzentration, kann auch nicht wirklich von Dekonstruktion die Rede sein. Adrià bringt nicht das textuell Unbewusste einer Speise zum Vorschein. Vielmehr setzt er eine Genusserwartung voraus. Indem er dann den Ton der Speise in den Sinnesqualitäten anspitzt, erzielt er seine Sensationen. Qualia bringen die Qual ins Spiel. Das erinnert an katholische Eucharistiefeiern, an die Vorstellung der göttlichen Präsenz in der Hostie. In der Wandlung wird aus der Hostie der Leib Christi bei voller Abwesenheit des Fleisches. Eine Hostie sollte man nicht zerbeißen. Sie löst sich quasi von selbst im Speichel auf, bevor man sie verschluckt und sich mit dem Numinosen vereinigt.

Es mag auch kein Zufall sein, dass Adrià besessen ist von flüssigen Gelees. Seine milchigen gelatineartigen Soßen erinnern bisweilen an Ejakulat. Und an den Gedanken der Exerzitien des Ignatius von Loyola, dass man sich quälen solle, bis am Ende die reine Seele zum Vorschein kommt. Die Vorstellung, dass der Leibhaftige das Volumen ist und die Essenz der Heilige Geist, liegt jedenfalls nahe. „Nichts schmeckt besser als das Sperma eines Genies“, meinte Alma Mahler-Werfel (-Gropius-Kokoschka). Sie kannte sich aus. Ist Adrià ein Genie?

Im Grunde hatte die Nouvelle Cuisine, die in den 1970er-Jahren die Spitzengastronomie inhaltlich erneuerte, die Entwicklung schon vorweggenommen. Die aufgeschäumten Soßen sind seitdem ein Stilmittel in der Haute Cuisine. Adrià hat das nur in den extremsten Effekt überführt, der sich kaum mehr steigern lässt. Seine heißen Schäume, espumas, werden mit einem Siphon aufgeschäumt und dem Gast in Reagenzgläsern verabreicht. Sie schmecken nach Schinken, Trüffel, Venusmuscheln oder Honigmelone. Die Schaumschlägerei ist inzwischen inflationär geworden, selbst in kulinarischen Wüsten wie Brandenburg oder Mecklenburg gibt es kaum mehr einen ambitionierten Koch, dem Gast nicht irgendwelche Schäume und Gelees vorsetzt.

Das El Bulli liegt in einer Bucht der Costa Brava nahe dem Badeort Rosas. Es ist ein Wallfahrtsort für Gourmets aus der ganzen Welt. Seit Jahren verleiht ihm der Michelin mit drei Sternen höchste kulinarische Weihen. Wer einen Tisch haben will, muss leidensfähig sein. Die Plätze werden ausgelost. Jährlich sollen etwa 950.000 Reservierungsanfragen eingehen. 8.000 Plätze gibt es pro Saison, die Saison 2007 war in drei Stunden ausverkauft. Adriàs Restaurant hat nur vom 1. April bis zum 30. September geöffnet, und das nur abends. In den Wintermonaten zieht sich Adrià in sein Labor El Tallers in Barcelona zurück, um Neues auszutüfteln.

Der Meister macht sich rar. Adrià arbeitet mit permanentem Entzug. Er entzieht dem Gemüse den Saft, dem Fleisch die Substanz, dem Mund den Biss, dem Eis die Kälte und der Suppe die Wärme. Und er kündigt jetzt schon an, dass er sich am Ende selbst entziehen wird. Ab 2008 soll ganz Schluss sein mit der Reserviererei. Dann will er sich seine Gäste nur noch selbst aussuchen. Mit einem „Eintischrestaurant“ will Ferran Adrià die letzte Stufe seiner totalen Küche verwirklichen. Der Tisch wird endgültig zum Altar, auf dem Adrià seine schwarzen kulinarischen Messen zelebriert. Der Gast wird kein Gast mehr sein, sondern ein Auserwählter. Ein König. Und Ferran, der Magier, beherrscht dann den König über dessen Magen und dessen Gier. Es geht nicht um kulinarische Erfüllung, sondern um Züchtigung.

Literatur: „El Bulli 1998–2002“. Hampp Verlag, Stuttgart 2003, 2 Bände mit CD-ROM, 496 Seiten, 160 Euro. „El Bulli 2003–2004“, Hampp Verlag, 2006, 2 Bände mit CD-ROM, 650 Seiten, 180 Euro TILL EHRLICH, 42, ist Autor und lebt in Berlin