Der Ort, an dem alles möglich war

FOTOBAND Postkarten aus der Wunscherfüllungszone: „Berlin Wonderland“ dokumentiert die Aktivitäten der Kulturbesetzer der frühen Neunziger

VON ULRICH GUTMAIR

Die Szenerie, die auf dem Coverfoto von „Berlin Wonderland“ abgebildet ist, sieht aus wie im Film. Man könnte damit vielleicht auch William Burroughs „Interzone“ bebildern.

Zwei junge Männer in weißen Gallabijas, mit Fez auf dem Kopf und Sandalen an den Füßen, sind in ein Gespräch vertieft, während sie die Straße entlangschlendern. Sie haben gerade ein nacktes Kind überholt. Leute haben es sich auf einem Stapel von Steinen mit Matratzen und Sonnenschirm gemütlich gemacht. Die Steine sollen wohl irgendwann verlegt werden, denn einen Gehweg gibt es genauso wenig wie Straßenbelag. Andere sitzen im Sand der Straße, während eine junge Frau mit Zigarette im Mundwinkel gerade einen Plastikeimer entgegennimmt, der mit einem Seil aus einem der oberen Stockwerke eines Hauses heruntergelassen wird. Ben de Biel hat das Foto im Sommer 1990 in der Kinzigstraße aufgenommen, wo nach einer Demo ebenjenes Haus besetzt wurde.

„Berlin Wonderland“ versammelt Fotografien aus den frühen Neunzigern, vor allem aufgenommen in Ostberlin. Ergänzt werden sie durch Erinnerungsfragmente auf Deutsch und Englisch von Menschen, die auf den Bildern zu sehen sind oder dabei waren, als in Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain 130 Häuser besetzt, ungezählte Bars ohne Schanklizenz betrieben und irgendwelche Katakomben für ein paar Nächte in einen Club verwandelt wurden. „Wild years revisited 1990–1996“ lautet der Untertitel des Bands, was gut den romantischen Charakter dieser Aufnahmen zusammenfasst.

Sie stammen von Ben de Biel, Hendrik Rauch, Philipp von Recklinghausen, Stefan Schilling, Hilmar Schmundt, Andreas Trogisch und Rolf Zöllner. Sie zeigen nicht die Technoszene, die sich um Clubs wie den Tresor und das E-Werk formierte, auch nicht die Kunstszene um die Galerie Wohnmaschine, Kunstwerke, Eigen + Art, Allgirls und Neu, sondern Aufnahmen aus der Community der Kulturbesetzer rund um Tacheles, Eimer, Schokoladen und Synlabor.

„Berlin Wonderland“ ist das Buch, auf das man lange gewartet hat. Denn so wichtig und prägend die hier abgebildete und sich in prägnanten Statements erinnernde Szene für die kulturelle Wiederbelebung der Stadt war, so wenig sind die Orte dieser Zeit in ihrem Bildgedächtnis präsent. Dabei ist das hier porträtierte Ostberlin, das von vielen als „Wunscherfüllungszone“ erfahren wurde, wie David Wagner schön in seinem kurzen Vorwort schreibt, eine der wichtigsten Quellen des Mythos von Berlin als Ort, an dem alles möglich ist.

Herausgegeben wird der Band von Anke Fesel und Chris Keller, die Veteranen der Szene sind und die Fotoagentur Bobs Airport betreiben. Die beiden lernten sich 1993 im Eimer kennen und leben immer noch gemeinsam in Mitte. „IM Eimer“ hieß das besetzte Haus in der Rosenthaler Straße offiziell, in dem ständig Bands, darunter Atari Teenage Riot, auftraten. Der Name, so erfahren wir, war dem Umstand geschuldet, dass einige der Leute aus der Ostberliner Besetzercommunity damals als Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi enttarnt wurden.

Und so handelt „Berlin Wonderland“ nicht nur von den grauen Fassaden, den Brachen, von „warmem“ Abriss von Häusern durch Spekulanten oder den Kampfjets, die von der Roten Armee zurückgelassen wurden und irgendwann in der Stadtmitte wieder auftauchten. Vor allem erzählen diese Bilder von den Menschen, die sich Räume aneignen und die Freiheit einer Situation genießen, die von einer postrevolutionären Offenheit geprägt ist. Man sieht sie beim Arbeiten, beim Häuserkampf, beim Theaterspielen, beim Feiern und beim entspannten Rumhängen.

„Es war ein unglaublich freies, kreatives Leben. Dadurch, dass man so viel Raum hatte, so wenig Grenzen gesetzt bekam und alles benutzen konnte, was um einen herum war, konnte man viel ausprobieren“, erzählt Uta Rügner. Auf einem der Fotos sieht man sie in der Sonne vor einer unverputzten Mauer sitzen, mit wasserstoffblonden Dreadlocks und einer Batmanbrille auf der Nase.

■ „Berlin Wonderland“. 224 Seiten, 29,90 Euro. In jedem guten Buchladen oder zu bestellen unter www.berlin-wonderland.de. Ausstellung bis Sonntag in der Urban Spree Gallery in der Revaler Str. 99. Heute ab 20 Uhr mit den Elektronauten, DJs Daniel Meteo und Benedict Berna. Samstag und Sonntag jeweils ab 16 Uhr