: „Wir brauchen eine demokratische Revolution“
STAGNATION Die Katastrophe war vorhersehbar, sagt Filmemacher Arnold Antonin. Es ärgert ihn, dass Haitis Politiker untätig bleiben
■ 68, ist einer der bekanntesten Filmemacher Haitis. Während der Diktatur von Jean-Claude Duvalier lebte er im Exil, wo er den Film „Ayiti, men chimin Libete“ (Der Weg zur Freiheit) drehte. 1986 kehrte er nach Haiti zurück. 2002 wurde er beim Festival in Cannes für sein Lebenswerk und den Dokumentarfilm „Women of Courage“ ausgezeichnet.
taz: Bereits 2009 haben Sie vor einem Erdbeben gewarnt und gegen die Untätigkeit der Regierung protestiert. Haben Sie jemals geglaubt, dass Ihre Horrorvision Realität werden könnte?
Arnold Antonin: Ja, ich habe immer mit dieser Angst gelebt. In Haiti waren alle Voraussetzungen für eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes gegeben.
Worauf stützten sich Ihre Warnungen?
Seismologen wie der Haitianer Claude Prépetit und der Franzose Alain Calais haben schon vor Jahren auf die Gefahr eines Erdbebens aufmerksam gemacht. Darüber hinaus gab es in den letzten Jahren mehrfach Warnzeichen in Gestalt kleinerer Erdbeben. Die meisten Gebäude erfüllen keine Baustandards, sie wurden ohne staatliche Kontrolle gebaut. Jeder heftige Regen, jeder Hurrikan führt zu schweren Überschwemmungen, Schlammlawinen und fordert unnötige Todesopfer. Die ökologische Situation in Haiti ist eine permanente Katastrophe, die weitere nach sich zieht.
Wie haben Sie auf sich aufmerksam gemacht?
Wir haben unter der Losung „Nein zum kollektiven Selbstmord“ für Umweltschutz und Vorsichtsmaßnahmen demonstriert und versucht, die Öffentlichkeit mit Kongressen und Veranstaltungen zu mobilisieren.
Gab es staatliche Reaktionen?
Auf unsere Forderung, eine Übung für den Fall eines schweren Erdbebens zu organisieren, hat niemand reagiert.
Nach dem Erdbeben fiel die Regierung durch Inaktivität auf. Wen machen Sie dafür verantwortlich?
Der haitianische Staat ist schwach. Der Staat wurde zudem schwer getroffen. Die überwiegende Zahl der öffentlichen Gebäude ist eingestürzt, der Nationalpalast wurde zerstört, viele Beamte starben. Auch die UN-Haiti-Mission erlitt schwere Verluste. Aber das entschuldigt nicht, dass es den Überlebenden an Verantwortung fehlt. Es wurde die Gelegenheit verpasst, die Bevölkerung zu mobilisieren und angesichts der Katastrophe das Land gemeinsam wiederaufzubauen.
Sehen Sie in René Préval den Hauptverantwortlichen dieser Inaktivität?
Er ist genauso verantwortlich wie alle seine Vorgänger. Aber Aristide und Préval haben die Gelegenheit verpasst, das Land aus seiner strukturellen Misere herauszuholen. Im Gegenteil, sie haben sie verstärkt und das Land noch mehr von internationaler Hilfe abhängig gemacht.
12. Januar 2010: Um 16.53 Uhr Ortszeit bebt rund um Port-au-Prince insgesamt 43 Sekunden lang die Erde. Das Epizentrum liegt 25 Kilometer westlich der Hauptstadt in der Nähe der Kleinstadt Léogâne. Noch drei Nachbeben folgten.
13. Januar: Aus der Dominikanischen Republik treffen erste Rettungstrupps in Port-au-Prince ein.
15. Januar: 100.000 Haitianer, die illegal in den USA leben, und 30.000, die abgeschoben werden sollten, erhalten eine auf 18 Monate befristete Aufenthaltsgenehmigung.
18. Januar: Die USA stationieren Marines und Infanterietruppen, insgesamt 5.800 Soldaten.
19. Januar: Der UN-Sicherheitsrat beschließt die Aufstockung der UN-Mission um 3.500 Mann. Der Pariser Club ruft zu einem allgemeinen Schuldenerlass für Haiti auf. Die Auslandsschulden Haitis betrugen im Juli 2009 1,885 Milliarden US-Dollar.
22. Januar: Die haitianische Regierung erklärt das Ende der akuten Rettungsmaßnahmen.
25. Januar: Zwischen der Dominikanischen Republik und Haiti wird ein „humanitärer Korridor“ eröffnet.
3. Februar: Die UN benennen Bill Clinton als Hilfskoordinator.
9. Februar: Von der haitianischen Regierung wird die offizielle Zahl der Toten mit 230.000 angegeben. Da anfangs keine Toten registriert wurden, geht man davon aus, dass es etwa 300.000 sind.
31. März: Auf der Geberkonferenz sagen Vertreter von 138 Staaten, internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen Haiti finanzielle Hilfe in Höhe von 9,9 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau zu; die Europäische Union verspricht etwa 1,6 Milliarden Dollar.
17. April: Das haitianische Parlament beschließt auf Antrag von Staatspräsident René Préval ein Notstandsgesetz, das diesem weitgehende Rechte einräumt.
1. Juli: Der Präsident verkündet nach heftigem internationalem Druck verfassungsgemäße Neuwahlen für den 28. November.
19. Oktober: Der erste Cholerafall wird in der Region des Artibonite bekannt.
28. November: Von den 4,7 Millionen Stimmberechtigten nimmt nur 1 Million an den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen teil. 15 der 19 Kandidaten fordern die Annullierung der Wahl wegen Wahlfälschungen.
29. November: Der Präsidentschaftskandidat und Popstar „Sweet Mickey“ Michel Martelly erklärt sich zum Sieger.
7. Dezember: Erstes vorläufiges Wahlergebnis: Mirlande Manigat (31,30 %), Jude Célestin von der Regierungspartei Inite (22,48 %), Michel Martelly (21,84 %).
27. Dezember: Beginn der Neuauszählung der abgegebenen Wählerstimmen.
5. Januar 2011: Der Provisorische Wahlrat teilt mit, dass der Termin für die Stichwahl am 16. Januar nicht eingehalten werden kann. Die Zahl der Choleratoten beträgt nach offiziellen Angaben 3.481.
6. Januar: UN beschließt die Einsetzung einer unabhängigen Kommission, die die Ursachen des Choleraausbruchs untersuchen soll. (hud)
Sie haben unmittelbar nach dem Beben mit den Dreharbeiten für Ihren Dokumentarfilm „Chronik einer angekündigten Katastrophe“ begonnen. Warum so schnell?
Ich wollte Zeugnis in einem Land ablegen, in dem es eine Verschwörung gegen die Erinnerung gibt. Naturkatastrophen sind nicht vermeidbar, aber durch menschliche Untätigkeit provozierte Katastrophen schon. Außerdem ist dieser Film mein Tribut an die Toten, darunter Menschen, die mir nahestanden.
Erdbeben, Korruption, staatliche Inkompetenz, Cholera, Wahlfälschungen: Hat Haiti überhaupt noch eine Chance?
Haiti bedarf keiner halbherzigen Lösungen mehr. Wenn Sie das Land aus dem bodenlosen Abgrund herausziehen wollen, muss es im Kampf gegen Massenarmut, in den Bereichen Ökologie, Bildung und Beschaffung von Arbeitsplätzen einen Paradigmenwechsel geben. Wir brauchen eine demokratische Revolution. Haiti braucht eine radikale demokratische Veränderung, die der Armut und der Ausgrenzung ein Ende setzt, ohne Populismus oder Demagogie. Die nächste Regierung muss aus Personen bestehen, die einen anderen Blick auf das Land haben, die entschlossen und integer sind, die Gesetze umzusetzen, die zwar existieren, aber deren Einhaltung noch keiner durchgesetzt hat. INTERVIEW: HANS-ULRICH DILLMANN