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Archiv-Artikel

Mangelernährung im Mutterleib fördert Diabetes

Untergewichtige Babys leiden als Erwachsene häufig an der Zuckerkrankheit. Ursache ist eine Fehlprogrammierung während der Schwangerschaft

„Etwa 250 Millionen Menschen leiden derzeit an Diabetes, fast 4 Millionen sterben jährlich daran“, mahnt die Internationale Diabetes-Föderation. Die meisten Betroffenen leben in Indien und China, prozentual ist ihr Anteil mit 9,2 Prozent aller 40- bis 59-Jährigen im Nahen Osten am höchsten. Diese Verteilung ist eigentlich erstaunlich, denn bisher galt Diabetes als Wohlstandserkrankung, die vor allem in westlich orientierten Überflussgesellschaften verbreitet ist. Doch offenbar scheinen Schwellenländer, die nach einer langen Zeit der Armut am Beginn des wirtschaftlichen Aufschwungs stehen, weitaus anfälliger dafür zu sein. Als Erklärung für dieses Phänomen diskutieren Wissenschaftler zunehmend die Theorie der „fetalen Programmierung“. Entwickelt wurde sie vom englischen Arzt David Barker. Demnach tritt Diabetes besonders in sozial schwachen Regionen auf, in denen einige Jahrzehnte zuvor viele Säuglinge mit Untergewicht zur Welt gekommen sind. In Holland etwa grassierte Anfang 1945 eine Hungersnot, in deren Folge viele unterernährte Babys zur Welt kamen – und es waren genau diese Kinder, die später als Erwachsene zucker- und herzkrank wurden.

Offenbar programmierte die Mangelernährung den Fötus im Bauch der Mutter auf ein späteres Leben als Diabetiker und Herzpatient. „Ein untergewichtiges Baby hat ein 15-fach gesteigertes Risiko, später zuckerkrank zu werden“, warnt Barker.

Physiologisch lässt sich die fetale Programmierung dadurch erklären, dass es in der Entwicklung des Fötus sensible Phasen gibt, in denen die Stoffwechselfunktionen eingestellt werden. Leidet nun die werdende Mutter unter Mangelernährung, „erlernt“ der Fötus frühzeitig, möglichst viele Energien aus dem kargen Nahrungsangebot zu ziehen. Eine durchaus sinnvolle Strategie, um das Überleben zu sichern. Allerdings wird sie auch nach der Geburt beibehalten, selbst dann, wenn mittlerweile ein Überangebot an Nahrungsmitteln herrscht. Physiologisch manifestiert sie sich als eine Resistenz des Körpers gegenüber Insulin, das den Blutzuckerspiegels kontrolliert. Am Ende geht es mit ihm steil nach oben, der Mensch erkrankt an Diabetes. Es ist also vermutlich der Wechsel vom Mangel zum Überfluss, der in den Schwellenländern zur Diabetesepidemie geführt hat.

Die fetale Programmierung hat auch Konsequenzen für das Leben in etablierten Wohlstandsgesellschaften. Denn Magersüchtige und Frauen, die immer wieder Diäten machen, müssen ebenfalls damit rechnen, dass ihr Baby später Diabetes entwickeln wird. Andreas Plagemann von der Charité-Klinik für Geburtsmedizin warnt vor Stress, Nikotin und Alkohol als Risiko für eine Wachstumshemmung beim Fötus. Zudem dürfte man trotz aller Bedeutung des „Small-Baby-Syndroms“ nicht vergessen, dass auch Übergewicht und Diabetes der Mutter als „fehlprogrammierende Faktoren“ wirken, die das Diabetesrisiko des Kindes erhöhen. JÖRG ZITTLAU