Sing mir ein kleines Arbeiterkampflied!

BOHEME Vorträge, Lesungen, Konzerte: Im Geiste des vor 80 Jahren ermordeten anarchistischen Schriftstellers Ernst Mühsam feierten Fans, Neugierige und Leser ein großes und sehr gut besuchtes Fest

Nachleben: Mühsams Tagebücher werden derzeit emphatisch in den Medien besprochen

VON DETLEF KUHLBRODT

Am 10. Juli jährte sich der Todestag von Erich Mühsam zum 80. Mal. Mit verschiedenen Veranstaltungen wurde an den berühmten Anarchisten und Schriftsteller erinnert, der am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg ermordet wurde und auf dem Waldfriedhof Dahlem begraben liegt. Die größte, das „Erich-Mühsam-Fest“, fand in der „Zukunft“ an Ostkreuz statt.

Vielleicht auch, weil der anarchistische Künstler und Boheme in einem Text von 1906 sehr kritisch über Radfahrer berichtet hatte – „der Radfahrer ist der Widerwärtigste“ –, war mein Fahrrad kaputtgegangen, und ich fuhr mit der S-Bahn.

Die „Zukunft – Ranch am Ostkreuz“, ein paar Meter hinter dem about blank, in dem immer noch fleißig Techno getanzt wurde, ist ziemlich toll. Auf dem schrebergartenwildwestmäßigen Gelände gibt es zwei Open-Air-Bühnen, Biergärten, eine Brauerei. In dem Haus „Zukunft“ mit Kneipe, Theaterbühne und zwei kleineren Kinosälen war einst der Filmbunker des DDR-Filmverleihs Progress. Als ehemaliger 80er-Jahre-Westberliner fühlte man sich an links-alternative Veranstaltungsorte aus den 80er und 90er Jahren erinnert.

Wohl auch, weil Mühsams Tagebücher, die zurzeit im Verbrecher Verlag erscheinen, emphatisch in den Medien besprochen wurden, war das Fest, das nachmittags begann und bis in die Nacht ging, sehr gut besucht. Etwa 700 Besucher jeden Alters waren gekommen.

36 Veranstaltungen

Es ging dabei nicht darum, Werk und Leben noch einmal genau zu untersuchen; die 36 einzelnen Veranstaltungen fanden eher im Geiste Mühsams statt. Es gab also: Musik der Anarchistischen Musikwirtschaft, einer Sezession der 1985 gegründeten Bolschewistischen Kurkapelle, die Herausgeber seiner Tagebücher präsentierten als „The incredible Herrengedeck“ Chanson-Punk, die Gruppe Geigerzähler machte „Geigen-Punk“, Frieder Böhm von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) sprach über den Gedenkort KZ Sonnenburg, Bert Papenfuß stellte mit anderen die Zeitschrift Abwärts vor, und es gab diverse andere Lesungen und Diskussionsversanstaltungen, etwa über Rechte bei den Montagsdemos. Es gab einen Dokumentarfilm über „die Münchner Räterepublik und ihre Dichter“, einen Vortrag über Zenzi Mühsam, die, nachdem sie den Mühsam-Nachlass (mit den umfangreichen Tagebüchern) an ein Moskauer Archiv gegeben hatte, 19 Jahre lang in ein Arbeitslager gesperrt worden war und erst nach Stalins Tod in die DDR entlassen wurde, wo sie 1962 verstarb; und natürlich wurde auch aus Mühsams Werken gelesen.

Statt von einer zur anderen Veranstaltung zu hasten, konnte man auch einfach nur im Biergarten sitzen und sich über die Abschaffung des Montags unterhalten, Kartoffelplinze essen, im schönen Erich-Mühsam-Lesebuch des Verbrecher Verlags lesen, rauchen. (Ich bin lange nicht mehr auf einer Veranstaltung gewesen, wo so viele Leute rauchten.)

Dann wieder der Anarchistischen Musikwirtschaft lauschen; wie die fast 20 Musiker „Wovon man nicht sprechen kann, dazu muss man schweigen“ intonierten und sich über das schöne kleine Arbeiterlied von Foyer des Arts noch einmal freuen: „Sing mir ein kleines Arbeiterkampflied / Eines mit Pepp; Eines, das swingt / Und werktätige Menschen zum Nachdenken bringt.“

Irgendwann begann es kalt zu werden. Ich hatte zu wenig an, saß deshalb in der Kneipe und las einen Brief von Zenzi Mühsam über die Anfänge der Münchner Räterepublik im November 1918: „… ich sprang auf das Verdeck des Autos, nahm die rote Fahne und schrie ‚Hoch der Frieden und die Revolution‘, die Soldaten kamen zurück […], und dann zogen wir Mühsam rauf, der eine wundervolle Rede an die Soldaten richtete, da stürmten die Soldaten aus der Kaserne, zerschlugen ihre Gewehre auf dem Pflaster, und mit Hurra verließen diejenigen die Kaserne, die ausbrechen konnten, es waren nämlich alle Soldaten in den Kasernen eingesperrt.“

Als Hochverräter wurde Mühsam später zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er fünf Jahre absitzen musste.

Während einem die Aufzeichnungen über das Bohemeleben sehr nahe sind – das umherschweifende Vorkriegsleben des anarchistischen Schriftstellers erinnert an die Bücher der Autoren der Beatgeneration pp. –, sind einem die späteren Texte ferner, man kann sich nicht wirklich in die Konflikte der Weimarer Republik hineinversetzen; es fehlen vergleichbare Erfahrungen. Gerade deshalb sind die Tagebücher Mühsams so wichtig und stehen nun neben den autobiografischen Schriften linker Schriftsteller wie Franz Jung („Weg nach unten“), Georg K. Glaser („Geheimnis und Gewalt“) und Oskar Maria Graf („Wir sind Gefangene“). Es sind 7.000 Seiten, die parallel zur Buchausgabe auch im Internet veröffentlicht sind. „Viel Spaß dabei“, sagte der Herausgeber Chris Hirte, nachdem er Passagen aus den Tagebüchern vorgelesen hatte.