Die neue lutherische Reform: Kürzen

Im Jahr 2030 hat die evangelische Kirche von heute vier Milliarden Euro Budget nur noch zwei. Deswegen wird Ratspräsident Wolfgang Huber wohl als ein fiskalischer Martin Luther in die Geschichte eingehen – er krempelt die Kirche vollkommen um

AUS WITTENBERG PHILIPP GESSLER

Die stärksten Worte hat natürlich wieder Martin Luther gefunden: „Du unverbesserlicher Sorgen-Blutegel“, schimpfte er im Jahr 1530 Philipp Melanchthon. „Ich bin nicht sonderlich beunruhigt, vielmehr besserer Hoffnung, als ich zu sein gehofft hatte.“ Solche Parolen des Reformators zitierte der neue evangelische Reformer Wolfgang Huber gerne. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) will die Landeskirchen einer grundlegenden Veränderung unterziehen. Und die Nachricht an deswegen besorgte 300 Frauen und Männer der in Wittenberg Tagenden war klar: Macht euch keine Sorgen – auch wenn wir die Kirche radikaler umbauen müssen, als wir je gedacht haben.

Die 23 Landeskirchen der EKD stehen vor immensen finanziellen Problemen: Wenn die Kirche Luthers heute nicht reformiert wird, so wird die sie im Jahre 2030 „ein Drittel weniger Kirchenmitglieder und nur noch die Hälfte der heutigen Finanzkraft haben“. So beschreibt es ein in der Lutherstadt diskutiertes Impulspapier mit dem Titel „Kirche der Freiheit“, die eine Kommission unter Leitung Hubers erarbeitet hat. Gemessen am heutigen Geldwert, hat die EKD nach ihrer Prognose in 25 Jahren nicht mehr 4 Milliarden Euro wie heute durch Kirchensteuer und ähnliche Einnahmen zur Verfügung, sondern nur noch 2 Milliarden.

Allein die Gehälter der Pfarrerinnen und Pfarrer würden mit 1 Milliarde Euro die Hälfte des Budgets der evangelischen Kirche verschlingen. Dann hätte man gerade noch genug Geld, um die Kirchengebäude zu erhalten und zu beheizen. Denn die Betriebskosten und Baukosten der etwa 20.000 evangelischen Kirchen in Deutschland belaufen sich zur Zeit auf 1 Milliarde Euro im Jahr. Schon heute wird vielerorts gespart, dass es quietscht – und die finanzielle Lage wird in den meisten Landeskirchen wegen des Geburtenrückgangs und der Überalterung der Gemeinden immer schlimmer werden.

„Einen Mentalitätswandel“ fordert das Impulspapier deshalb geradezu gebetsmühlenartig, um diese bedrohliche Entwicklung abzuwenden. Konkret schlägt es vor, die Zahl der traditionellen Gemeinden von derzeit 80 auf 50 Prozent zu senken – der Rest sollen dann „Profilgemeinden“, speziell für Jugendliche etwa, oder Netzwerk-Angebote sein, zum Beispiel Internet-Gemeinden. Außerdem soll es dann nicht mehr 21.000 Geistliche geben wie bisher, sondern nur noch 16.500. Auch die Zahl der Landeskirchen soll sich halbieren, auf höchstens 12 mit mindestens 1 Million Mitglieder – eine Revolution. Die kleinsten Landeskirchen haben derzeit 61.000 und 55.000 Mitglieder.

Das ist starker Tobak für viele der Protestanten in Wittenberg – gerade hier in einer Kirche, die manchmal fast so traditionsverliebt ist wie die römisch-katholische Schwesterkirche. Dennoch hielt sich die Kritik der evangelischen Debattierer an dem Papier in den ersten beiden Tagen des Kongresses zunächst in Grenzen. Ausgerechnet ein Landesbischof schoss jedoch am schärfsten. Hans-Christian Knuth, Bischof der Evangelisch-lutherischen Kirche Nordelbiens, sagte: „Wir sind die Kirche Jesu Christi, nicht die Kirche der Freiheit.“ Dieser Begriff wurde doch vor allem dazu benutzt, „um ein gutes Gefühl zu erzeugen“. Die Kirche solle offenbar unter dem Deckmantel der Freiheit zentralisiert und hierarchisiert werden. „Kopfgeburten“ träten an die Stelle von lebendigen Gemeinden. Ein Raunen ging dabei durch den Tagungssaal angesichts der Schärfe des Tons. Aber gerade das hätte Martin Luther, den wütenden Streiter gegen Sorgen-Blutegel, womöglich gefallen.