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: Der Fohlenschöpfer

FUSSBALL Günter Giersberg (Hg.): „Hennes Weisweiler. Vordenker des modernen Fußballs“. Verlag Die Werkstatt. 144 Seiten, 19,90 Euro

„Abseits ist, wenn dat lange Arschloch zu spät afspellt“

WEISWEILER ÜBER NETZER

Es ist wirklich erstaunlich, dass es über Hennes Weisweiler noch kein Buch gab. Der Mann, der 1964 Trainer des randständigen Regionalligisten Borussia Mönchengladbach wurde, gleich in die Bundesliga aufstieg und mit der jungen Elf um Vogts, Netzer, Heynckes und Wimmer die Fohlen vom Bökelberg erschuf. Weisweiler prägte eine Dekade lang den bis heute als legendär geltenden Angriffsfußball der Borussia. Nach drei Meistertiteln endete seine Zeit am Niederrhein mit dem Europapokalsieg 1975. Für 40.000 Mark Monatslohn, eine unfassbare Summe damals, wurde er Trainer beim FC Barcelona.

Frohnatur, Lebemann, Kölsch-Freund, großer Psychologe, Gefühlsmensch, Monument. So nennen ihn Mitstreiter von damals heute. Aber auch: Choleriker mit rabiatem Umgangston, Autokrat, Kotzbrocken. Er war „ebenso dickfellig wie dünnhäutig“, textet DFB-Präsident Wolfgang Niersbach, der ihn als junger Agenturjournalist kennenlernte. Toni Schumacher meint über Weisweilers Zeit als Erfolgstrainer in Köln (Doublegewinner 1978): „Mir hat immer imponiert, dass er auch als Endfünfziger selbst nach ausgiebigen Feiern am Morgen unerschütterlich als Erster mit rot gefrorenen Oberschenkeln auf dem Platz stand.“ Weisweiler habe ihm nur gesagt: „Ich bin och kapott wie sonst was. Aber Disziplin ist in unserem Beruf alles.“

Späte Nachrufe einstiger Weggefährten wie diese veredeln dieses dicke Buch voller Anekdoten, Hintergrundgeschichten, königlichen Bizarrheiten. Jupp Heynckes verehrt Weisweiler bis heute („diese herausragende, charismatische Person“), sagt aber auch: „Ein großer Taktiker war Weisweiler nicht. Für ihn gab es immer nur Attacke.“ Und üben, üben, üben bis zur Perfektion. Credo: Aus guten Fußballern sehr gute machen.

Weisweiler trainierte die Borussia und lehrte gleichzeitig an der Sporthochschule Köln. Jeden Tag jahrein, jahraus über die Bundesstraße hin und her; eine Autobahn gab es noch nicht.

Immer war er der Chef. Und die Spieler blieben Spieler, so wichtig sie auch waren. Mit Johan Cruyff geriet er in Barcelona übel aneinander (ein Moffe als Trainer, für einen Niederländer damals eine Gottesstrafe), später mit diversen Altstars bei Cosmos New York. Mit Günter Netzer verband ihn eine Art Hassliebe. Weisweilers schönster Satz über Netzer: „Abseits ist, wenn dat lange Arschloch zu spät afspellt.“

Es ist auch ein überaus guckenswertes Buch. Das liegt am Fotoalbum der jungen Witwe Gisela Weisweiler, 71, mit Bildern vom Privatmenschen Weisweiler: als Wehrmachtssoldat, bei einer Hochzeitsfeier in Israel, als Strandkicker mit Kindern in Barcelona, als sehr später Vater (mit 61), in wichtiger Pose hinter der Reiseschreibmaschine. Davon hätte man gern noch mehr gesehen und stattdessen auf einzelne sorgsam bemühte Glorifizierungstexte voller Versatzstücke und Klischees verzichtet, die stellenweise sogar bis ins Kicker-Deutsch schwappen. Jenseits solch gelegentlicher Leseschwere destillieren sich doch Einblicke heraus über einen epocheprägenden Mann.

Gisela Weisweiler sagte jetzt bei der offiziellen Buchpräsentation in einer urkölschen Kneipe, in der sich Skatfreund Don Hennes noch zwei Wochen vor seinem Tod 1983 mit 63 Jahren im Gästebuch verewigt hat: „Sein Herz hat immer für Köln geschlagen, und gleichzeitig hing es so richtig an seiner Borussia.“

Über 20.000 Menschen („wie ein Staatsbegräbnis“) nahmen Abschied vor dem Hohen Dom zu Köln. BERND MÜLLENDER