Mädchen zum Sammeln

KREISCH Die Girlgroup AKB 48 ist in Japan unglaublich erfolgreich. Eine ganze Industrie vermarktet die achtzehn jungen Sängerinnen

Die Fans können sich ihren Liebling früh aussuchen und ihre Favoritin auf dem Weg nach oben begleiten

AUS TOKIO MARTIN FRITZ

Jedes Jahr im Juni erlebt Japan eine bizarre Wahl. Die Fans der Band AKB 48 stimmen darüber ab, welche 16 Sängerinnen die nächste Single aufnehmen. Das Mädchen mit den meisten Wählerstimmen darf im Zentrum der Gruppe singen und tanzen. Was sich banal anhört, ist in Japan ein noch größeres Ereignis als das Finale von „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Germany’s next Topmodel“ in Deutschland.

In diesem Jahr wurden 2,7 Millionen Stimmen für fast 300 künftige, aktuelle und ehemalige Sängerinnen abgegeben. Das Ergebnis wird vor 70.000 Menschen in einem Stadion verkündet und live vom größten Privatsender übertragen. Nach viereinhalb Stunden steht die Gewinnerin fest: Diesmal wurde Mayu Watanabe der Mantel der „Präsidentin“ umgelegt.

Die 20-Jährige und ihre Kolleginnen sind populärer als alle Politiker. Google Japan zeigt 47 Millionen Treffer für AKB 48 an. Praktisch jede Single schafft es an die Chartspitze. Mit CDs und DVDs setzt die Band jährlich 160 Millionen Euro um. AKB 48 hat eine eigene Manga-Serie und Fernsehshow. Marken von Google bis Shiseido werben mit den Mädchen. Egal ob sie den „Herz-BH“ von Japans Dessous-Hersteller Peach oder den Dosenkaffee Wonda von Asahi promoten – der Umsatz zieht an. Im Guinness-Buch der Rekorde steht AKB 48 mit dem Eintrag für die meisten Auftritte in TV-Werbespots an einem einzigen Tag – 90. Die Post widmete der Gruppe sogar eine Briefmarke. Experten sprechen von 360-Grad-Marketing.

Jeden Nachmittag tritt die Band in ihrem eigenen Klub im 8. Stock eines Hochhauses in Akihabara auf. AKB steht für den Tokioter Stadtteil, 48 als Chiffre für das Projekt. Auch an diesem Tag spulen 18 Teenager in rüschigen Röcken und mit bunten Schleifchen im Haar ihr Programm von sopranhohen J-Pop-Melodien und orchestrierten Tanzbewegungen ab. „Ich will dich, ich brauche dich, ich liebe dich“, singen sie. Vor der Videoleinwand draußen singen Hunderte junge Leute und mittelalte Angestellte im Anzug mit. „Es ist so schwer, an Karten zu kommen“, seufzt der 22-jährige Masahiro Tanaka und schwenkt seinen Lichtstab. Akihabara ist berühmt für Elektronikgeschäfte und die Subkultur der Otaku. Dieser japanische Ausdruck bezeichnet extreme Fans und Sammler vor allem von Manga, Anime und Videospielen. Diesen Männern wird fehlender Mut für eine Liebesbeziehung zum anderen Geschlecht nachgesagt. In diesem Umfeld ist AKB 48 groß geworden.

Ausländische Beobachter kritisieren das Spiel der Band mit dem Lolita-Komplex ihrer zu 95 Prozent männlichen Fans. „Diese Mädchen sind sexuelle Chimären“, meint der Japan-Kenner Michael Cucek. Ihre Outfits ähnelten Schuluniformen, und beim Tanzen imitierten sie kindliches Verhalten, obwohl es junge Frauen seien. Die Videos würden sexuelle Fantasien anregen. Im Film zum meist geklickten Song „Heavy Rotation“ etwa liefern sich halbnackte Bandmitglieder in bonbonfarbener Unterwäsche eine Kissenschlacht, füttern und küssen sich gegenseitig. Die Frauen von AKB 48 seien nicht aktiv und unabhängig, sondern erfüllten männliche Bedürfnisse, monierte die Japan Times. Doch die Fans bestreiten eine sexuelle Attraktion. „Mein Lieblingsmädchen ist mehr wie eine kleine Schwester für mich, die ich beschützen möchte“, betont der 28-jährige Jin Shirakawa. Ganz ähnlich sagt der ältere Angestellte Jun Kobayashi über seine Favoritin, so stelle er sich eine eigene Tochter vor.

Pop-Idole zum Anfassen

Auch der Schöpfer von AKB 48 hat eine andere Meinung. Das Erfolgsgeheimnis bestehe darin, dass die Sängerinnen „Pop-Idole zum Anfassen“ seien, erklärt ihr Produzent Yasushi Akimoto. Während normale Popgruppen erst nach dem Proben und Üben aufträten, seien AKB 48 unfertig. „Bei dieser Band können die Fans die Fortschritte miterleben“, betont der 58-Jährige in Interviews. Die Mädchen werden bei Talentwettbewerben ausgesucht und entwickeln sich danach vor Publikum von Amateuren zu Show-Profis. Aktuell sind es zwei Dutzend Trainees, die das Singen und Tanzen von der Pike auf im Rampenlicht lernen. Sie fangen als halbe Kinder mit Pferdeschwanz an und entwickeln sich zum mehr oder weniger großen Sternchen, bis sie die Band für eine Solokarriere oder den „Ruhestand“ verlassen. Wie viel sie verdienen, ist nicht bekannt.

Die Fans können sich ihren Liebling ganz früh aussuchen und auf dem Weg nach oben begleiten und unterstützen, etwa bei der jährlichen Wahl. Für den Wahlzettel müssen sie jedoch die aktuelle CD kaufen. Manche erwerben angeblich Hunderte von CDs, um die Wahl zugunsten ihrer Favoritin zu beeinflussen. Stückpreis: 9 Euro. „Ich kannte Mayu von Anfang an und habe sie mit groß gemacht“, berichtete ein Anhänger der frisch gewählten Präsidentin stolz.

AKB-48-Erfinder Akimoto hatte das Geschäftsmodell in den achtziger Jahren entwickelt. Beim „Kätzchenklub“ ließ er über 50 Teenager mit dünnen Stimmchen und ungeschliffenen Bewegungen in einer TV-Schau auftreten und sich langsam zu einer Popgruppe entwickeln. 2005 führte der Musik-Manager diesen Coup mit AKB 48 zur Perfektion. Der Pool von über 60 Mädchen ist in Teams eingeteilt, die ständig irgendwo auftreten. Über den Kauf einer CD nehmen ihre Anhänger an Verlosungen für „Handshake“-Treffen nach den Konzerten teil –mit ihrem Idol formen die Fans mit den Fingern ein Herzchen und lassen sich dabei fotografieren. „Niemand ist loyaler und fanatischer als diese Otaku“, meint das Japan-Blog Tofugu. Der Schock war daher groß, als kürzlich ein Mann bei einem solchen „Meet and Greet“ zwei Sängerinnen mit einer Kettensäge verletzte. Doch er war kein Fan.

Dennoch gibt es eine dunkle Seite dieser „Beziehungen“ zwischen Anhängern und Mädchen. Den Bandmitgliedern ist es nämlich vertraglich verboten, einen Freund zu haben, offenbar um ihr kindliches Image und die Fantasien der Otaku nicht zu stören. Als Sängerin Minami Minegishi letztes Jahr mit einem Jungen ertappt worden war, wurde sie zu den Trainees strafversetzt und entschuldigte sich mit kahlgeschorenem Kopf und unter Tränen in einem Internetvideo. Entgegen den Erwartungen reagierten ihre Fans aber nicht eifersüchtig auf ihr „Fremdgehen“. Bei der diesjährigen Wahl fiel die Sängerin nur um vier Plätze auf Rang 18 zurück.