Von solchen und solchen Feinden

Die neuerliche Empörung über mögliche Begnadigungen zeigt, dass die RAF noch längst nicht Geschichte ist. Wolfgang Kraushaar hat sich mit seinem Sammelband „Die RAF und der linke Terrorismus“ trotzdem an einer Historisierung versucht

Viele Beiträge zielennicht nur auf ein Milieu, sondern auch auf das Ganzeder Gegenkulturen

von DIEDRICH DIEDERICHSEN

Als der Altphilologe, Dichter und Rocksänger Ed Sanders 1969 mit seiner umfangreichen Recherche über Charles Manson und seine Family begann, hatte er einen diskurspolitischen Grund. Er glaubte, der Medienhype über die mörderische Kommune sexbesessener Hippies sei ein gezielter Versuch des Establishments, die Bewegung als solche und das „großartige Jahrzehnt“ der 60er zu diskreditieren. Die Morde „hätte man ihnen einfach angehängt“.

Diesem Manöver wollte Sanders entgegenwirken, indem er die Wahrheit ans Licht bringen würde. In seinem Klassiker „The Family“ ist ihm dies auch mit Sicherheit gelungen. Nur war die Wahrheit viel schlimmer als alles, was der Medienhype bis dahin aus der Manson-Geschichte gemacht hatte. Daraus ergeben sich Fragen: Ist die „Wahrheit“ die beste Diskurspolitik? Oder ist angemessene, gerechte Diskurspolitik die größtmögliche Annäherung an Wahrheit?

Zwei Sätze hört man immer wieder über die RAF und die ewige Konjunktur, die sie mit der Manson-Family gemeinsam hat. Zum einen, wie erstaunlich es sei, dass es über die RAF immer noch Neues zu sagen gäbe, zum anderen, dass über die RAF zu reden immer noch bedeute, sich auf vermintes Gelände zu begeben. Ich glaube, der erste Satz entspringt einem Missverständnis über den zweiten, der durchaus zutrifft. Wahr ist, dass die RAF als Phantom nicht aufhört, aktuell zu sein. Die gegenwärtige Funktion dieses Phantoms sowohl für das Selbstverständnis der Linken als auch für das dieses Staates ist es, als unerschöpfliche Kraftquelle für die Wiederbelebung einer politisierten Welt voller Ernstfälle zur Verfügung zu stehen.

Wer über die RAF diskutiert, diskutiert – fast immer – über etwas anderes. Er artikuliert entweder ein Sicherheits- und Schutzbedürfnis für heutiges Geldverdienen, das sich mit heutigen Bedrohungen eben nicht mehr rechtfertigen ließe. Er möchte sich linke und linksradikale Kritik endgültig vom Hals schaffen. Oder er artikuliert eine oft eitle Sehnsucht nach einer Zeit, als individuelle politische Entscheidungen noch richtig oder falsch und vor allem in jeder Hinsicht konsequenziell und existenziell sein konnten.

Über diese Verdachtsmomente scheint der vorliegende, überaus umfangreiche Doppel-Sammelband „Die RAF und der linke Terrorismus“, herausgegeben von Wolfgang Kraushaar und bei der Hamburger Edition des Hamburger Instituts für Sozialforschung erschienen, erhaben. Von einzelnen Argumenten und auch mal ganzen, aber nicht ins Gewicht fallenden Texten abgesehen, bemüht es sich um ein Jenseits der Diskurspolitik. Er verfolgt keine vordergründigen Absichten, er reflektiert allerdings auch kaum das Problem, dass die Diskussion noch immer von solchen Absichten umstellt sein könnte.

Sanders wollte verhindern, dass die Manson-Familie als Pars pro toto für die ganze Hippie-Bewegung stehen würde und deren Botschaft an die Welt ins Gegenteil verkehren. Die RAF hat keinen Sanders gehabt, dafür hat sie ihren Kraushaar, der sie mit Gewalt aus den Zweideutigkeiten eines verminten diskurspolitischen Territoriums herauszerren will, hinein in die schöne positivistische Welt der Fakten.

Daher also Durchgänge durch Terrorismusdefinitionen ohne Ende, viel Platz für das Eindeutige und historisch Unbezweifelbare und dazu uruguayische Landeskunde (denn daher kommen die Tupamaros und die waren ein Einfluss auf die RAF; interessant übrigens: genau wie Black Panther, Otto Schily und viele argentinische Montoneros landeten sie in sozialdemokratischen Regierungen). Warum man aber überhaupt die RAF und al-Qaida vergleichen muss, bleibt dunkel. Diskurspolitik? Herbeigezerrter Gegenwartsbezug?

Auch wer heute antritt, der fortgesetzten Mythisierung und Spektakularisierung von Terrorismus durch eine wissenschaftliche Gewaltanstrengung – eintausendvierhundertfünfzehn Seiten! – etwas Unmythisches entgegenzusetzen, gerät in Schwierigkeiten. Format und Genre garantieren keine Exterritorialität gegenüber dem kontaminierten Gelände. Der Entschluss, einen spektakulären zweibändigen Klotz hinzulegen, könnte das Problem ebenso gut verschärfen: Wahrscheinlich konnte kein Mensch ahnen, dass pünktlich zu seinem Erscheinen eine unsägliche Gnadendebatte vom Zaune gebrochen würde, in der die Sabine-Christiansen-Springer-Spiegel-Rechtsallianz das große Wort beim wieder mal endgültigen 68er-Abschaffen führen würde.

Dabei hat die große wissenschaftliche Wahrheitsoffensive einen Kern, der über ihren Positivismus hinausgeht: der Versuch, so etwas wie eine Geistesgeschichte der RAF zu schreiben. Natürlich ist da vieles schief und die Versuchung, die gesamte radikale Linke in die Tonne zu treten, besonders groß; zumal kaum Leute zu Wort kommen, die sich heute mit linken Projekten verbunden zu fühlen scheinen, ganz zu schweigen von einschlägigen Spezialisten wie Klaus Theweleit, die offensichtlich inhaltlich nicht ins Konzept passten. Dennoch ist dieser Teil des Projekts ein großer Fortschritt gegenüber der klassischen Psychologisierung der RAF, ob in apologetischer, relativierender oder dämonisierender Absicht.

Bei aller Diversität gibt es aber eine sich immer wieder durchsetzende Tendenz dieser Geschichtsschreibung. Insbesondere Heinz Bude, Jan Philipp Reemtsma und Kraushaar selber sind entschlossen, nicht nur die RAF zu sezieren und zu entzaubern, sondern es geht auch darum, kein gutes Haar an den vermeintlichen, künstlerischen und subkulturellen Vorläufer-Milieus zu lassen, die die RAF hervorgebracht haben sollen. Bude liefert etwa, ohne Gespür für das Leben von Ideen (zumal in Kunstwerken und unter deren Produzenten), eine ziemlich gewaltsame Genealogie, die von der Gruppe SPUR, der Situationistischen Internationale, Guy Debord, Asger Jorn über Kunzelmann und Krahl direkt zur RAF-Ideologie führen soll.

Andere Autoren des Bandes gehen gerade mit dieser Verbindung angemessener um. Viele der hinzugezogenen Fachleute liefern differenziertere Bilder, etwa über den Einfluss Frantz Fanons. Irving Wohlfarth, der der Rolle nachgeht, die Walter Benjamin für die RAF gespielt hat, beruft sich mit Derrida darauf, dass es eben keinen unschuldigen Text gäbe – und sucht nicht die besonders schuldigen ausgerechnet bei den besonders antiautoritären. Viele der Beiträge tun aber genau dies und zielen so nicht nur auf ein Milieu, sondern auch auf das Ganze der Gegenkulturen, auf das „großartige Jahrzehnt“, von dem Sanders sprach.

Die RAF lasse sich in keiner Weise von der nicht nur durch sie restlos diskreditierten linksradikalen Geistesgeschichte trennen. Jeder Linksradikalismus sei verwickelt, die Subkulturen mit ihren Zuhältertypen umso mehr, der Dandyismus des frühen Baader bereits Vorzeichen seiner späteren Bereitschaft zur Barbarei, und am schlimmsten sind die „biederen Leute“, wie Reemtsma ein professoral-linksradikales Unterstützermilieu nennt. Deren Relevanz ist aber die unangetastete Prämisse des ganzen Unternehmens.

Obwohl ungefähr ein Jahrzehnt später politisch sozialisiert als diese Autoren, ist mir in den linksradikalen Szenen der 70er-Jahre niemand begegnet, der die Taten der RAF billigte oder auch nur ihre theoretischen und strategischen Prämissen teilte. Sympathisierende Gefangenenhilfsorganisationen waren ziemlich isoliert. Das änderte sich Ende der 70er nach und mit Punk und der neuen Konjunktur von Entschiedenheit. Kraushaar geht leider in seinem Abschnitt über popkulturelle RAF-Mythen an allen wesentlichen Phänomenen dieser Zeit vorbei, an denen „wir“ der RAF näher waren als je vorher und nachher: Die S.Y.P.H-Single, die 1979 die Worte „Viel Feind, viel Ehr“ unter ein Bild des bei der Schleyer-Entführung eingesetzten Kinderwagens setzte, war nicht nur die erste unabhängige deutschsprachige Punk-Single und Startschuss einer in den letzten Jahren vielfach wiederbelebten Bewegung, sondern auch eines von vielen Symptomen dieser Nähe. Sie war aber Begleitgeräusch der im selben Moment einsetzenden Depolitisierung der Subkulturen. Dies war eine RAF vor allem des Tons und der Pose. Ihr Appeal war der Vorläufer zu den ihren Verwendern längst völlig unklar gewordenen RAF-Zeichen in den dann auch von Kraushaar ausführlich gewürdigten, aber unwichtigen Pop-Phänomenen der jüngsten Zeit. Sie stehen dort neben so ziemlich jedem anderen denkbaren skandalösen Zeichen und verweisen allenfalls auf das heutzutage vollkommene Verlorengegangensein einer politischen Perspektive der eigenen Existenz.

Eines aber gab es durchaus schon in den 70er-Jahren, auch unter Nicht-Sympathisanten: eine weit verbreitete Staatsfeindschaft, und auf dieser Orgel spielte die RAF bekanntlich virtuos. Diese Staatsfeindschaft baut aber auf der in den emanzipatorischen, antiautoritären Bewegungen gemachten Erfahrung auf, dass eine bessere Organisation des Lebens möglich ist, eine Alternative zur BRD.

Ausgerechnet die „linke“ RAF setzte auf niederträchtigste Formen staatlicher Repression – intern durch Psychoterror, extern durch Gewalt bis zur Exekution. Davon werden auch andere Formen von Staatsfeindlichkeit nachhaltig beschädigt. Heute, wo als Alternative zum (westlichen) Staat nur Warlords, Fundamentalisten und die Diktatur des neoliberalen Marktes zur Auswahl zu stehen scheinen, haben sich alle derart in den Staat verliebt, dass die alte Gegnerschaft und ihre antiautoritären Motive völlig unverständlich geworden sind.

So ist die Karikatur möglich geworden, die hier – mal explizit, mal suggestiv – über den Anschluss an heute dominante Diskurse von den Gegenkulturen der 60er und 70er gezeichnet wird. Ed Sanders’ Verpflichtung auf Wahrheit bringt auch eine abstoßende und groteske Family hervor, die sie als Element dieser Gegenkulturen identifizierbar, aber auch isolierbar macht – und damit alle anderen Facetten der Counterculture unterscheidbar von der Family. Trotz fairer Forschung, trotz Bergen von Fakten und einer ausschweifenden, weit über die Gegenkulturen hinausgehenden Suche nach Vorläufern, die bis zu Menachem Begin reicht, geht der Sammelband zur RAF einen anderen Weg. Er zeichnet überwiegend eine historische Konstellation, an die es keinen Anschluss mehr geben darf. Dabei entstand dort das politische Imaginarium, das in der postfaschistischen BRD eine demokratische Politisierung möglich gemacht hat.

Gerade der heutige Niedergang aber dieser Politisierung in einer ökonomistisch verbauten Welt, in der nur noch individuelle Unternehmer in eigener Sache agieren, ruft den nicht totzukriegenden Mythos RAF immer wieder ins Leben irgendwelcher Träumer, Popsänger und Filmer. Das Phantom der RAF lebt von dem verbauten realen Anschluss an die 60er, es wird erst verschwinden, wenn Demokratie verwirklicht ist.

Wolfgang Kraushaar (Hg.): „Die RAF und der linke Terrorismus“. Hamburger Edition des Instituts für Sozialforschung, 1.416 Seiten, 78 €