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Leichter, schneller, weiter

In manchen Sportarten leiden viele Spitzenathleten unter Bulimie und Magersucht: Ein dünner Körper kann gewisse Anforderungen besser erfüllen. Nach dem Erfolg kommt jedoch meist der Absturz

VON JUTTA HEESS

Er ist federleicht und erfolgreich. Und hat eine alte Diskussion neu entfacht: Wie dünn dürfen Skispringer sein? Gregor Schlierenzauer unterschreitet als einziger im Skisprung-Zirkus den vom Internationalen Skiverband (FIS) vorgeschriebenen Body-Mass-Index (BMI) von 20. Bei einer Größe von 1,77 Meter wiegt der junge Österreicher 57 Kilogramm – und muss deshalb mit gekürzten Skiern springen. Damit wird der Wettbewerbsvorteil, den sich der Athlet mit seinem extrem leichten Körper verschafft, zumindest eingeschränkt. Schlierenzauer ist derzeit Zweiter des Weltcup-Klassements.

Doch nicht nur im Skispringen bringt wenig viel: In ästhetischen Sportarten wie Turnen oder Eiskunstlauf ist ein geringes Körpergewicht von Vorteil, ebenso in Ausdauerdisziplinen. Auch in Sportarten, in denen Gewichtsklassen eine Rolle spielen, wie Judo, Ringen, Taekwondo, gehört der tägliche Blick auf die Waage zum Trainingsprogramm. „In diesen Sportbereichen sind etwa 20 bis 40 Prozent der Sportler von Essstörungen betroffen“, sagt Marion Lebenstedt, Biologin und Mitautorin des Buches „Ess-Störungen im Leistungssport“. Konkrete Zahlen gebe es leider noch nicht, Studien zu diesem Problem seien schwierig umzusetzen. Kein Wunder, wer bekennt sich schon gerne zu einem gestörten Essverhalten?

Anorexia athletica nennen die Experten die Magersucht bei Leistungssportlern. Die körperlichen Folgen der Magersucht sowie der Bulimie (Essbrechsucht) sind heftig: Es kommt zu Herzrhythmusstörungen, zu Kreislaufproblemen, der Elektrolythaushalt gerät aus den Fugen, bei Frauen bleibt die Menstruation aus. Prominente Opfer des Teufelskreises aus Körperkontrolle und sportlichen Erfolg gibt es einige, doch nicht viele Sportler sprechen über ihre Probleme. Nach einem körperlichen Zusammenbruch outete sich im Jahr 2000 der Schweizer Skispringer Stefan Zünd, viermaliger Weltcupsieger. Er bekannte sich zu massivem Nahrungsverzicht, vor Wettkämpfen habe er tagelang nur Mineralwasser zu sich genommen. Die deutsche Eiskunstläuferin Eva-Maria Fitze litt an einer Essbrechsucht. Und unter den Beschimpfungen ihrer Trainerin: „Fitze, fett, faul.“ Sie machte eine Therapie und kehrte auf das Eis zurück. Die britische Kunstturnerin Christy Henrich musste hingegen ihren Wunsch nach Leichtigkeit auf dem Schwebebalken mit dem Leben bezahlen – zum Zeitpunkt ihres Todes wog sie bei einer Körpergröße von 1,45 Metern gerade noch 27 Kilo. Auch Bahne Rabe, der Schlagmann des Achters, der 1988 die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in Seoul gewann, starb im August 2001 an den Folgen der Magersucht. Als aktiver Sportler wog der 2,03-Meter-Mann fast hundert Kilogramm – erst nach seiner Karriere hungerte er sich auf 63 Kilo herunter. Folge eines durch den Hochleistungssport zu stark ausgeprägten Körperbewusstseins?

Natürlich kann man nicht in allen einzelnen Fällen den Sport für eine Erkrankung verantwortlich machen. Fest steht jedoch, dass durch zunehmenden Leistungsdruck und eigenen Ehrgeiz das Abrutschen in eine Essstörung begünstigt wird. Es wäre sinnvoll, auch in anderen Sportarten, in denen ein leichtes Gewicht Vorteile verspricht, ähnlich wie beim Skispringen einen Mindest-BMI einzuführen, damit die Athleten sich nicht weiter zum Sieg hungern müssen. Die Madrider Modewoche hat es im vergangenen Jahr vorgemacht: Dürre Models bekamen Auftrittsverbot, nur mit einem BMI über 18 durften sie auf den Laufsteg. Wobei das eine hauchdünne Angelegenheit ist: Die Weltgesundheitsorganisation stuft einen BMI unter 18 bereits als Untergewicht ein. Auch der Mindest-BMI beim Skispringen ist nur knapp über Untergewichtniveau: 18,5 beziehungsweise 20, da sich die Springer mit Schuhen und Anzug wiegen.

In der Gesamtbevölkerung hat man bei 29 Prozent der Frauen zwischen 12 bis 32 Jahren und 13 Prozent der Männer Frühsymptome von Essstörungen festgestellt. Tendenz steigend. Auch bei Magersüchtigen und Bulimieerkrankten, die keinen Wettkampfsport betreiben, spielt körperliche Betätigung eine große Rolle. Hier wird der Sport als Mittel zum Zweck – mager bleiben – eingesetzt. „Bei der Anorexie und der Bulimie haben wir es oft mit Menschen zu tun, die sich exzessiv bewegen, um Kalorien zu verbrennen“, erklärt Sylvia Baeck von der Essstörungsberatung „Dick und Dünn“ in Berlin. Es gehe den Betroffenen nicht um körperlichen Genuss oder darum, Wettbewerbe zu gewinnen. „Es steht wirklich der Kalorienverbrauch im Vordergrund. Ich habe eine Klientin, die muss jeden Tag 43 Bahnen schwimmen, und keiner weiß, warum sie ausgerechnet 43 Bahnen wählt. Das ist auch eine Zwanghaftigkeit.“

Der Zwang, den Körper zu kontrollieren, hat komplexe psychische Ursachen. In der Regel dauert eine Essstörung mehrere Jahre oder sogar ein ganzes Leben lang. „Magersüchtige malträtieren ihren Körper, sie sind im Kriegszustand mit ihm, sie hätten ihn am liebsten überhaupt nicht“, sagt Sylvia Baeck. „Alles, was der Körper an Bedürfnissen zeigt, nach Ruhe, nach Pausieren, das beantworten sie mit noch mehr Bewegung.“ Deshalb rät Sylvia Baeck Angehörigen und Freunden von Betroffenen, die sportliche Betätigung nicht zu unterstützen. Eltern sollten zum Beispiel auf keinen Fall die Fitnessstudiokosten der magersüchtigen Tochter übernehmen, auch wenn das ihr Wunsch sei. „Magersüchtige können erstaunlicherweise noch lange Zeit viel Leistung erbringen, das darf aber nicht über die Gefahren hinwegtäuschen“, erklärt sie.

Fesseln und Knebeln sind natürlich kein geeignetes Mittel, um krankhaftes Sporttreiben zu verhindern. Eher müssen die Betroffenen erkennen, dass sie ihre Einstellung zum eigenen Körper sowie ihre Essgewohnheiten ändern müssen. Erst dann ist Sport in Maßen empfehlenswert.

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