: Chinas portugiesische Spielhölle
Macau ist für seine Casinos bekannt, doch auch die europäischen Wurzeln und das chinesische Hafenviertel sind gut für eine Entdeckungsreise. Wer hier wohnt, hat häufig polyglotte Vorfahren. Die Sprache Patua, eine Mischung aus Portugiesisch und Kantonesisch, ist jedoch vom Aussterben bedroht
VON SUSANNE MESSMER
Ein Sommertag im Perlflussdelta kann sich wie ein Tag im türkischen Bad anfühlen. Es regnet so sehr, dass nichts geht ohne Gummistiefel, und trotzdem klebt einem schon der Schweiß die Kleider an den Körper. So ist es ein Glück, dass die Fähre von Hongkong zum sechzig Kilometer entfernten Macau langsam ist und klimatisiert: genügend Zeit, zu trocknen und sich auf Macau einzustellen.
„Kleiner Bruder von Hongkong“ wird diese Stadt mit nur einer halben Million Einwohner genannt. Hinter ihr liegen fast 450 Jahre portugiesische Kolonialherrschaft, aber wirtschaftlich ist sie so unwichtig, dass Portugal im letzten Jahrhundert zweimal vergeblich versuchte, die Insel dem großen Vorsitzenden Mao anzudrehen. Entsprechend wenig Trara gab es, als Macau im Jahr 1999 an China zurückgegeben wurde.
Heute sind es nur noch 1.000 Portugiesen, ein Viertel derer, die noch in den Neunzigern hier lebten – und 10.000 Macanesen mit chinesischen und portugiesischen Vorfahren. In China ist Macau ausschließlich als große Spielhölle bekannt. Die Stadt ist die einzige in ganz China, in der es legale Casinos gibt und wo seit kurzem sogar Investoren aus Las Vegas bauen dürfen.
Pah, denkt man, schlägt die schlaue Literatur zu, schließt die Augen und lässt die verwischten Bilder verträumter Gassen in Wong Kar Wais Filmen „In The Mood For Love“ und „2046“ Revue passieren, die zwar in Hongkong spielen, aber in Macau gedreht wurden. Es kann doch gar nicht sein, dass sich in Macau nur noch die Spielhöllen reihen. Man wird schon auch noch das Andere finden, die portugiesischen Cafés unter freiem Himmel, die mediterranen Plätze – eben diese nostalgischen Dinge, nach denen sich der Mitteleuropäer besonders verzehrt, wenn er gerade aus dem zukunftsorientierten China kommt. Doch auch in Macau kann man nie ganz sicher sein, woher etwas kommt, wie lange es schon da war und woraus es sich genau zusammensetzt.
Nach einer kurzen Busfahrt durch das farblose Viertel am äußeren Hafen: die Ankunft im zentral gelegenen Hostel Augusters. Der Betrieb gehört einer Familie, die drei Zimmer ihrer Wohnung billig an Rucksacktouristen vermietet und das Wohnzimmer zu einer charmanten Interpretation einer Hotellobby umfunktioniert hat. Von Schulschluss bis Mitternacht sitzt der Sohn dort am Computer und spielt „Counterstrike“. Wenn seine Mutter Maria nicht bei ihm sitzt und fernsieht, dann sein Vater Richard. Die Familie redet miteinander Englisch, aber zu den Gästen aus dem Zimmer nebenan spricht Maria in einer Sprache, die schwer zu identifizieren ist. Der Laie wird neugierig. Könnte das vielleicht Patua sein, die berühmte Sprache der Macanesen? Bald stellt sich heraus, dass Maria mit ihren Gästen spanisch spricht. „Vor 19 Jahren habe ich bei einem Urlaub in Macau einen Job gefunden und bin hängen geblieben“, sagt die Philippinerin. Das sei bis heute viel einfacher als zum Beispiel in Hongkong. So sei auch ihr Mann hier gelandet, ein katholischer Bengale, erklärt sie.
Macau ist kein Ort, an dem man gezielt Sehenswürdigkeiten ansteuern sollte – am besten man lässt sich treiben, bestaunt die schönen Balkonlandschaften aus kunstvollem Schmiedeeisen und überquellendem Grün, die hellgrünen und schimmelfarbenen Kolonialvillen, die hinter jeder Straßenecke überraschen, und die unzähligen barocken und klassizistischen Kirchen. Zwischendurch setzt man sich einfach wie alle Einheimischen hier auf die vielen öffentlichen Plätze, am besten auf den weitläufigen Largo de Senado im Herzen der Stadt und genießt die bunt getünchten Gebäude ringsum – ein Anblick, der sich sonst in China nirgends bietet.
Wer in Macau nach Spuren portugiesischen Lebens sucht, der wird in einem einzigen Straßenzug fündig: in der Travessa de São Domingos, die direkt vom Largo de Senado abgeht. Auf dieser Straße befinden sich zwei portugiesische Cafés und ein portugiesisches Restaurant – und um die Ecke der einzige portugiesische Buchladen der Stadt, der auch ein großes Angebot englischsprachiger Literatur zur Geschichte und Gegenwart Macaus führt. Im Ou Mun Café – Ou Mun ist der kantonesische Name für Macau – serviert man Galao im Glas, außerdem gibt es knusprig getoastete Croissants, die berühmten Puddingtörtchen und eine große Auswahl aufwändig verzierter Kuchen. Hier kehrt die portugiesische Gemeinde der Stadt ein, man kennt sich, grüßt sich, ruft sich den neuesten Tratsch über die Tische zu. Eine Portugiesin am Nachbartisch stellt sich als Rosa vor. Rosa lebt erst seit drei Jahren in Macau. Anfangs, sagt sie, war es für sie einfach ein Abenteuer, nach Macau zu gehen, und überhaupt kein Problem, einen Job als Sprachlehrerin an einer der portugiesischen Schulen zu finden. Inzwischen hat sie realisiert, zu einer schwindenden Minderheit zu gehören. Auch gehen ihr die vielen todesmutigen Vespafahrer, die es in Macau gibt wie in jeder kleineren chinesischen Stadt, und die neureichen chinesischen Zocker auf die Nerven.
Wenige Stunden später ist die beste Zeit, Rosas Worte an der Wirklichkeit zu überprüfen. Das Viertel, in dem Macaus Spielcasinos stehen, ist das einzige der Stadt, das sich kaum zu Fuß erschließen lässt. Fast unmöglich, die zahllosen Autobahnbrücken, Hotelkomplexe und quadratkilometergroßen Baustellen zu passieren. Es heißt, im schrulligen Hotel Lisboa sei das schönste Casino. Auf die abgewetzten Teppiche und die verblichenen Vorhänge mag das noch zutreffen. Dass sich aber hunderte Chinesen in Jogginganzug und Badelatschen an winzigen Spieltischen drängeln und mit ungerührter Miene auf undurchschaubare Zahlenkombinationen setzen, als gelte es, ein Regal zu montieren, das lässt nicht gerade Glamour aufkommen. Nach ein paar Runden durch das Labyrinth ewig gleicher Spielhallen bleibt nur noch die Flucht zurück zum Hotel.
Anderntags will das Viertel am inneren Hafen erkundet werden. Hier machte früher die Mafia ihre Geschäfte, und ein Bordell reihte sich ans nächste. Heute ist es das Zentrum chinesischen Lebens, in den engen Gassen drängen sich winzige alte Damen in feinen Hängekleidern und zierlichen Sandaletten, die um jedes Stück Obst so lautstark feilschen, dass es einem in den Ohren saust. Man findet Geschäfte für traditionelle chinesische Medizin, wo man Hirschgeweih und getrocknete Seepferdchen erwerben kann, Geschäfte für chinesische Backwaren und kleine Restaurants, wo gebackene Enten, Hühner und Schweineschwarten in den Fenstern baumeln.
Unversehens findet man sich auf dem unvermeidlichen Largo de Senado wieder. Einige chinesische Milchbars säumen den Platz. Hier goutieren junge Chinesinnen mit Kennermiene Milchpudding, den es sonst in China nicht gibt. Auf den zahlreichen Steinbänken unter den Bäumen haben sich junge, braun gebrannte Mädchen versammelt. Um herauszubekommen, woher diese Mädchen stammen, muss man sich zu ihnen setzen und unauffällig in einer Zeitung blättern. Eine der jungen Frauen singt „Demkrasi Sejati“. Später lässt sich im Internet nachlesen, dass das ein indonesischer Demokratiesong ist. In Macau bilden Indonesier nach den Philippinern die größte Gruppe von Einwanderern – und trotz des politisch interessierten Mädchens hat das nichts mit den Unruhen in Osttimor zu tun, sondern mit den laxen Einwanderungsbeschränkungen Macaus.
Am Abend haben die beiden Gastgeber das Riquexo in der Avenida Sidónio Pais empfohlen. Das Riquexo ist eine der letzten authentischen Kantinen für macanesisches Essen, diese seltsame Mischküche, die portugiesisch und chinesisch, aber auch von den Kochkünsten der Frauen aus Goa und Malacca inspiriert ist, die manche portugiesischen Seefahrer schon auf der Reise nach Macau geheiratet und mitgebracht hatten.
Kein Wunder, dass das Riquexo in keinem Reiseführer steht: Im schmucklosen Ambiente kann man nichts als vier verschiedene Currys aus vier verschiedenen Edelstahltrögen bestellen, zum Beispiel Huhn afrikanisch, ein Curry mit Kartoffeln, Zimt und Lorbeer. Es ist noch nicht spät, trotzdem sitzen nur noch zwei Frauen um die fünfzig am Tisch nebenan – sie haben sowohl chinesische als auch europäische Gesichtszüge.
Die beiden freuen sich über das Interesse einer Europäerin und beginnen sofort zu erzählen. Die schickere der Damen mit strassbesetztem T-Shirt stellt sich als Teresa vor. Teresa erzählt, dass sie einen portugiesischen Großvater hatte, katholisch erzogen wurde und auf eine portugiesische Schule in Macau ging. Außer Englisch und Portugiesisch spricht sie Kantonesisch und Patua, die vom Aussterben bedrohte Sprache der Macanesen. Sie macht bei einer Theatergruppe mit, die Stücke auf Patua aufführt. Patua ist portugiesischen Ursprungs mit kantonesischen Einflüssen, aber auch indischen, malaysischen und englischen Lehnwörtern.
Teresa wirkt wie eine Macanesin aus dem Bilderbuch, in dem es heißt, als Macanese pflege man ein sehr sentimentales Verhältnis zu seiner Heimat. Schon etliche Urlaube hat Teresa in Portugal verbracht, wegziehen würde sie aber niemals. Es wäre schön, die Spuren dieser kleinen, selbstbewussten Kultur noch weiterzuverfolgen – aber es ist spät, und morgen früh geht die Fähre zurück nach China.
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