Propagandabilder, Kriegsbilder, Videospielbilder

THEATER Die Performance-Gruppe Rimini Protokoll zeigt ihr Stück „Situation Room“ auf dem Hamburger Kampnagel-Festival

Erzählt wird von der Totalität des Krieges in der Gegenwart sowie von der Benutzeroberfläche seiner Bilder

Plötzlich sitzt man vor dem Computerbildschirm auf dem Schreibtisch eines Flüchtlings aus der syrischen Stadt Homs. Man sieht einen grobkörnigen Amateurfilm, wahrscheinlich mit einem Mobiltelefon aufgenommen. Bei einer friedlichen Demonstration gegen das Assad-Regime war dieser Mann 2011 von einer Polizeikugel schwer verletzt worden. Weil Verwundete von der syrischen Polizei als Rebellen gejagt, gefoltert und ermordet werden, floh er nach Deutschland. Was in Syrien geschieht, verfolge er unter anderem via Facebook, erzählt er nun. Wo zum Beispiel Filme gepostet werden wie jener, der auf seinem Bildschirm gerade zu sehen ist: Ein Mann wird in einem syrischen Gefängnis von Mitgliedern der Miliz mit Eisenstangen totgeschlagen.

Der Handyfilm ist authentisch. Der Schreibtisch mit dem Computer des syrischen Flüchtlings in Hannover ist es nicht. Genauso wenig hört man ihn leibhaftig sprechen. Leibhaftig sitzt der Zuschauer mit Kopfhörern, aus dem seine Stimme dringt, in einem seinem Zimmer nachgebauten Szenenbild. Es ist Teil eines Filmsets, in dem sich noch andere Räume befinden, unter anderem das Büro eines Managers eines Rüstungskonzerns, ein Konferenzraum, ein Wachturm oder ein Operationszelt der „Ärzte ohne Grenzen“ in Sierra Leone, wo ein Arzt unter katastrophalen Bedingungen fürchterliche Verletzungen zu versorgen hat, die Rebellen Zivilisten zufügten. Zum Beispiel hackten sie ihnen die Hände ab, weshalb der Arzt jetzt, fast 20 Jahre später, immer noch nachts aufstehen muss, um nachzusehen, ob seine Familie ihre Hände noch hat.

Drohnen und Streubomben

„Situation Rooms“ hat das Performance-Kollektiv Rimini Protokoll diese Arbeit überschrieben, die mit Menschen konfrontiert, deren Leben von Waffen geprägt ist, darunter ein Sportschütze ebenso wie ein Oberleutnant der indischen Luftwaffe, der dienstbeflissen von seinem Einsatz in Kaschmir berichtet, wo die Vernichtungsangriffe gegen Terroristen von unbemannten Drohnen ausgeführt werden. Man trifft eine Friedensaktivistin, die die Deutsche Bank gezwungen hat, sich aus dem Geschäft mit Streubomben zurückzuziehen. Es sind Nutzer und Opfer von Waffen, Produzenten und Menschen, die sich mit den verheerenden Folgen befassen, die Waffen für einzelne Menschen oder Gesellschaften haben. Entstanden im vergangenen Jahr und im August 2013 Rahmen der Ruhrtriennale herausgekommen, war diese inhaltlich wie logistisch virtuos durchdachte und umgesetzte Produktion 2014 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Dort konnte sie aus organisatorischen Gründen nicht gezeigt werden. Jetzt ist sie in Hamburg auf dem Kampnagel-Sommerfest zu sehen.

Es ist eine Arbeit, die auf geradezu haptische Weise die Frage nach den Bildern stellt, die der Krieg produziert: und zwar der (gefälschten) Propagandabilder ebenso wie der innersten Alptraumbilder. Erzählt wird von der für den Einzelnen so undurchdringbaren medialen Benutzeroberfläche dieser Bilder ebenso wie von der Totalität des Krieges, der inzwischen fast jeden zum Akteur und Mittäter macht: Man braucht nur ein Konto bei einer Bank zu haben, die das Geld ihrer Anleger mit Rüstungsgeschäften vermehrt. Man ist also längst nicht mehr bloß passiver Zuschauer von Horrornachrichten aus Krisengebieten, sondern finanziert diese Kriege längst selber mit. Ist also kaum weniger unschuldig als der Bankdirektor, an dessen Schreibtisch man plötzlich durch das Spiel „Situation Rooms“ Platz zu nehmen gezwungen ist.

Aktivistin und Banker

Denn ein Videospiel ist „Situation Rooms“ auch. Immer 20 Zuschauer können gleichzeitig teilnehmen. Jeder erhält ein iPad, das an einem Stiel befestigt ist. So kann man es wie einen Spiegel vor sich her tragen. Auf dem Bildschirm ist ein Filmbild des Bildes zu sehen, in dem sich der jeweilige Zuschauer gerade befindet. Man ist aufgefordert, sich von der Kamera dieses Filmbildes leiten zu lassen, deren Perspektive man so automatisch einnehmen muss. In den teilweise dokumentarisch funktionierenden Bildern (von Chris Kondek) tauchen dann die realen Figuren auf, aus deren Geschichten „Situation Rooms“ gebaut ist. Die Aktivistin gegen Finanzierung von Waffengeschäften von Banken mit ihren Kundengeldern zum Beispiel, die als Filmbild plötzlich einem Zuschauer gegenübersitzt, der real am Schreibtisch des Bankdirektors Platz genommen hat und so in seine Rolle schlüpfen musste.

Die Zuschauer werden so selber zu Akteuren wie in einem Ego-Shooter. Aber auch zu Statisten und Zielobjekten für die anderen Mitspieler in „Situation Rooms“, für die in dem luzide geschnittenen Filmmaterial auf dem kleinen iPad-Bildschirm Wirklichkeit und Inszenierung bald ununterscheidbar übereinanderliegen und das bald einen stärkeren Sog als die reale physische Umgebung erzeugt. Schärfer kann man die Facetten heutiger Kriege nicht ins Visier nehmen. ESTHER SLEVOGT