Auf ewig unversöhnt

„Heldenfriedhof“ von Thomas Harlan: ein großer, unerbittlicher und zugleich verwundbarer Roman über den Holocaust

VON BERT REBHANDL

Die Grundübelau im Berchtesgadener Land ist ein Tal, das vor allem den Wanderern bekannt ist. Für den Schriftsteller Thomas Harlan, in dessen Universum sich alles auf das eine bedeutsame Faktum der nationalsozialistischen Verbrechen bezieht, ist die Grundübelau ein historischer Ort in mehrfacher Hinsicht: Hier war nach 1945 ein wichtiger Übergang im kleinen Grenzverkehr zwischen Deutschland und Österreich, hier fanden wichtige am Grundübel des 20. Jahrhunderts Beteiligte eine Zuflucht. Sie fanden aber keinen Frieden, auch wenn sie vielfach der Verfolgung durch das Gesetz entgingen.

In seinem Roman „Heldenfriedhof“ versucht Thomas Harlan nicht weniger, als die Totalität der Verbrechen und ihrer unvollständigen Sühne zu beschreiben. Der Nationalsozialismus und dessen Tötungspolitik ist für ihn nicht zu Ende, solange die Lagerleiter aus Belzec, Sobibor und Treblinka, solange die für die Räumung des Warschauer Ghettos Verantwortlichen, solange an der Operation Reinhard, der Ermordung der osteuropäischen Juden, wesentlich Beteiligte noch leben. Das Datum, mit dem „Heldenfriedhof“ einsetzt, ist der 26. Mai 1962. An diesem Morgen wird auf dem Friedhof von Opicina, unweit von Triest, eine Grabschändung entdeckt. Die Leiche des SS-Majors Christian Wirth ist verschwunden, an seiner Stelle werden vierzehn andere Leichen in Gruben entdeckt, die anscheinend eigens für diese kollektive nächtliche Selbsttötung ausgehoben wurden. Die Identität dieser Leichen wird bald geklärt – es handelt sich um damals an der Operation Reinhard Beteiligte. Sie scheiden nicht aus dem Leben, weil sie damit ihre Schuld eingestehen wollen, sondern weil sie damit das Schweigen besiegeln wollen, das über ihren Verbrechen ruhen soll.

Wie es Thomas Harlan so will, hat am Vorabend dieses außerordentlichen Vorfalls in der Triester slowenischen Tageszeitung Primorski dnevnik der Abdruck des Romans „Heldenfriedhof“ von einem gewissen Heinrich Duerr in Fortsetzungen begonnen. Die Ereignisse von Opicina sind darin bis ins Detail vorweggenommen, wodurch der Roman „Heldenfriedhof“ von Thomas Harlan zu einer paradoxen Konstruktion wird: zu einer Meditation in Fragmenten über ein gleichnamiges gescheitertes Romanprojekt, das mit den Mitteln der Fiktion auf die innerste Wahrheit der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen zielt.

„Heldenfriedhof“ ist also nominell eher das Werk eines Herausgebers: Thomas Harlan, der Textmaterial gesammelt hat von dem vielfältig begabten und abgrundtief verzweifelten Triester Enrico Cosulich (alias Heinrich Duerr, nebst einiger weiterer Pseudonyme). Cosulich hat im Jahr 1944 seine schwermütige Mutter Margarita verloren – sie ging auf einen Transport in den Osten und wurde nie wieder gesehen. Nach dem Krieg widmet sich Cosulich, neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit und seinen Kompositionen, obsessiv der Erforschung der Verbrechen einer Gruppe von Menschen, die nach 1941 in Polen und ab 1944 in der Operationszone Adriatisches Küstenland tätig waren. Dabei arbeitet er wie ein Privatdetektiv, reist den Leuten nach, fotografiert sie, legt Dossiers an, und er arbeitet dabei mit Personen der Zeitgeschichte zusammen, deren Verdienste um die strafrechtliche Verfolgung der NS-Verbrechen entscheidend waren: dem 1995 verstorbenen Österreicher Hermann Langbein oder dem 1968 mitten in den Vorbereitungen zu einem großen Prozess unter nicht ganz eindeutigen Umständen verstorbenen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer.

Wenn man so will, ist Enrico Cosulich, eine Figur aus dem Geiste Thomas Bernhards, die entscheidende Fiktion in dem Roman „Heldenfriedhof“. Sie dient jedoch nur der besseren Kenntlichmachung der tatsächlichen Geschehnisse zwischen 1945 und 1968. Unschwer ist außerdem zu erkennen, dass Cosulich/Duerr viele Züge von Thomas Harlan selbst trägt, der mit seiner ganzen Biografie in diesem hochkomplexen Romanprojekt präsent ist. Thomas Harlan, 1929 in Berlin geboren, ist der Sohn von Veit Harlan, dem wichtigsten Filmemacher im Nationalsozialismus. 1949 wurde Veit Harlan der Prozess gemacht, sein Freispruch wurde als Zeichen dafür empfunden, dass fortan zwischen Haupttätern (die alle tot waren) und Mittätern (die sich auf Befehle von weiter oben berufen konnten) unterschieden werden sollte. Genau gegen diese Unterscheidung, die das Jahr 1945 als große Wegscheide aufrichtet, ist „Heldenfriedhof“ geschrieben.

Thomas Harlan hat viele Daten aus seinem eigenen bewegten Leben eingearbeitet. 1960 ging er in das sozialistische Polen und barg aus dortigen Archiven wesentliche Dokumente zur Judenvernichtung. In der Bundesrepublik Deutschland wurde ihm wegen Landesverrats der Prozess gemacht, er lebte danach vorwiegend in Italien, Frankreich und Portugal. In den Siebzigerjahren entstand in Frankreich der umstrittene Film „Wundkanal“, in dem er den nun schon über 70-jährigen ehemaligen SS-Obersturmbannführer Albert Filbert vor einer Kamera zum Sprechen bringen wollte. Das ganze erratische Lebenswerk von Thomas Harlan bis zu seinem Roman „Rosa“ (2000) kann als ein Versuch gesehen werden, die Taten und vor allem das mangelnde Schuldbewusstsein seines Vaters zu exorzieren. Mit „Rosa“ erst schien er seine eigentliche Form gefunden zu haben: Nur mit einer wuchernden Sprache kann er das Ich, das angesichts der überwältigenden Negativität der Vernichtungspolitik zu zerbrechen droht, notdürftig wieder zusammenfügen.

Die Lektüre von „Heldenfriedhof“ wird dadurch insgesamt zu einem guten Stück Arbeit: Perspektive, Erzähler und auch die Tonlage wechseln ständig. Es gibt lange Wahnmonologe und noch längere Litaneien. Die Unversöhnlichkeit, mit der Harlan gegen das politische Establishment im Nachkriegsdeutschland vorgeht („der seinen Anspruch auf Existenz verwirkende Bundestag“), ist aber nur die Kehrseite einer radikalen Verwundbarkeit, die er seiner Figur des Enrico Cosulich eingeschrieben hat. Mit seiner ganzen Existenz und der Frömmigkeit einer negativen Mystik kreist dieser Mann um „das Eine“.

Es zählt zu den Klischees der Nachkriegsgeschichte, dass man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben dürfe, dass sich die Schoah der Darstellung entziehe. Die Literatur (und das Kino) haben sich diesen Klischees längst entzogen, es gibt zu Auschwitz (das, nebenbei, nicht das Thema von Thomas Harlan ist: Er weiß mehr über Chelmno, Belzec, Sobibor und Treblinka) inzwischen Texte und Filme, die trivialer nicht sein könnten. Es gibt aber eben auch Werke, hinter die „das Wissen“ nicht mehr zurückkann: Die Dokumentarfilme von Claude Lanzmann zählen dazu, und nun auch die Romane von Thomas Harlan, in denen „das Eine“ zu einem Datum der Erdgeschichte wird.

Thomas Harlan: „Heldenfriedhof“. Eichborn Berlin Verlag, Berlin 2006, 577 Seiten, 24,90 Euro