: Proteste in Pakistan gehen weiter
Die Suspendierung des obersten Richters durch Präsident Musharraf stürzt das Land in eine Krise. Bei neuen Demonstrationen werden hundert Menschen festgenommen
DELHI taz ■ In der pakistanischen Hauptstadt Islamabad ist die Polizei gestern bei Protesten gegen die Suspendierung des obersten Richters des Landes mit Schlagstöcken gegen Demonstranten vorgegangen. Unter den Demonstranten waren auch mehrere hundert Rechtsanwälte, die ihrem Unmut über die Regierungsentscheidung Luft machen wollten. Landesweit wurden etwa hundert Oppositionelle festgenommen. Präsident Pervez Musharraf hatte den obersten Richter Iftikhar Mohammad Chaudhry vor einer Woche wegen angeblichen Fehlverhaltens und Amtsmissbrauchs suspendiert.
Dieser Schritt droht Pakistan in eine schwere Krise zu stürzen, mit unabsehbaren Folgen für das Regime Musharraf. Dieser hatte die Suspendierung damit begründet, dass er zahlreiche Klagen gegen Chaudhry erhalten habe, darunter Nepotismus und Bereicherung. Entsprechend seinem Stil rief Musharraf dafür aber nicht den Obersten Richterrat an, der allein über eine Maßregelung oder gar Entlassung befinden kann, sondern hatte sich selber dieses Recht genommen. Immerhin gab er dem Rat Gelegenheit, über die endgültige Entlassung zu befinden.
Musharraf mag darauf gesetzt haben, dass Chaudhry nicht eben den Ruf eines Richters genoss, der sich der Öffentlichkeit fernhält und der Durchsetzung der Verfassung widmet. Überhaupt hat sich die Justiz seit der Machtübernahme durch Musharraf nicht immer durch Verfassungsstrenge ausgezeichnet. Den Militärcoup von 1999 rechtfertigte sie wie frühere Kollegien mit der berüchtigten „Doktrin der Notwendigkeit“, einer Klausel, die den Verfassungsbruch im Nachhinein rechtfertigte. Doch im Verlauf der vergangenen zwei Jahre wurde das Gericht immer mutiger und wagte es, das Regime zumindest zu belästigen.
Darin zeichnete sich besonders Iftikhar Chaudhry aus. Er machte die Privatisierung der staatlichen Pakistan Steel rückgängig und warf der Regierung indirekt Korruption vor; er machte sich Klagen über Gewalt gegen Frauen und über das Verschwinden und Foltern von Regimegegnern zu eigen. Im letzteren Fall zwang er die Regierung, regelwidrig Inhaftierte dem Gericht vorzuführen.
Die Entlassung des Richters wurde in Öffentlichkeit sofort mit diesen Fällen in Verbindung gebracht. Ein Entrüstungssturm brach los. In allen Städten des Landes kam es zu Demonstrationen und zur Störung der Gerichte durch Anwälte. Diesen schlossen sich in den vergangenen Tagen immer mehr Regimegegner und die Vertreter der parlamentarischen Opposition an. Diese hoffen, endlich ein Thema gefunden zu haben, das sie einigt. Falls Musharraf damit rechnete, dass Chaudhry demissionieren würde, um sich nicht der Jury seiner Kollegen zu stellen, wurde er enttäuscht. Chaudhry hatte bereits vor der ersten Vorladung am Dienstag erklärt, er werde nicht zurücktreten und für seine Wiedereinsetzung kämpfen.
Dass das Regime beginnt, die Affäre ernst zu nehmen, zeigt das Vorgehen gegen die zwei privaten Fernsehkanäle, die die Proteste übertragen hatten. Sie wurden kurzerhand aus dem Verkehr gezogen, und als sie wieder Signale sendeten, lief die Berichterstattung ohne Livebilder. Die Nervosität auf beiden Seiten zeigt, dass die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen Ende des Jahres ihre Schatten vorauswerfen. Dies könnte auch das Motiv für die Suspendierung Chaudhrys gewesen sein. Möglicherweise wollte Musharraf dafür sorgen, dass ihm von dieser Seite keine Gefahr droht. Der Präsident muss von einem Wahlgremium, bestehend aus Abgeordneten des Zentral- und der Provinzparlamente, ernannt werden. Es ist bekannt, dass er sich vom abtretenden Parlament wählen lassen will, dessen Zustimmung er sicher ist. Die Opposition hat dies als Verfassungsverletzung gebrandmarkt, und es ist möglich (wenn auch unwahrscheinlich), dass die Obersten Richter dies auch so sehen. Der Entscheid des Richter-Rats zum Fall Chaudhry wird zeigen, ob die Justiz Musharraf gefügig bleibt oder ob sie das Land in eine konstitutionelle Krise stürzt, die dem Präsidenten gefährlich werden könnte.