UNHEIMLICHE LEUTE: Provinz reloaded
Eine kurze Fernfahrt stand an, nachmittags hin und abends zurück, um gegen Babelsberg 03 den Aufstieg zu feiern. Neben mir im Abteil saß ein über die Maßen fröhlicher Mann, vor sich auf dem Schoß die Auto-Bild, ADAC Motorwelt oder ein ähnliches Verkehrsnaziblatt. „Man muss sich auch mal stärken“, quasselte er ungefragt den XXL-Typen mir schräg gegenüber an, der ein Brötchen aß. „Schalke hat’s geschafft“, bemerkte er daraufhin bei einem Blick über meine Schulter in die Zeitung hinein, die ich gerade las. Als ich nicht reagierte, fing er an, laut vor sich hin zu pfeifen.
Solche Leute sind mir unheimlich. Die haben garantiert was zu verbergen. Auf einmal brausen sie auf und schlagen oder schießen wild um sich. Zum Glück musste ich in Wolfsburg umsteigen. Ich hätte vorher nie für möglich gehalten, dass ich das noch mal als „Glück“ bezeichnen würde.
In der Straßenbahn stellte ich mir vor, der Skin mit dem Hitlerbärtchen würde mich fragen: „Was ist denn das für ein Schwulenbier?“ Und ich müsste antworten: „Das ist kein Schwulenbier, das ist Elefantenbier.“ Apropos: Jede erste Bahn war mit Nazis gefüllt und jede zweite mit Schwulen. Als Berliner kann ich das ja vergleichweise gut unterscheiden. Der geneigte Leser dürfte nun ahnen, wie bizarr mir jedenfalls die Vorstellung war, dass sich beide Gruppen am Stadion wieder begegneten, und auch, von welchem Wagen in welchen ich umstieg.
Immer wieder erstaunlich, welch übergreifende gesellschaftliche Bedeutung der Fußball hier besitzt. Eine Gesellschaft übrigens, in der einiges im Argen liegt, denn beim Anblick der Braunschweiger Schülerinnen war ich ehrlich schockiert darüber, wie viele Zwölfjährige sich heutzutage als Prostituierte verdingen müssen. Ein wenig bedrückt fuhr ich später in die Hauptstadt zurück.
ULI HANNEMANN
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