Unter Ökos

BADEN-WÜRTTEMBERG Im Freiburger Stadtteil Vauban wählten bei der Landtagswahl 72,7 Prozent die Grünen. Wie lebt es sich da wohl? Ein Test

Das Projekt: Die Kinder maunzten erst mal: „Was sollen wir denn in diesem komischen Vauban?“ Knallharte Antwort: journalistisch arbeiten. Was finden Berliner Großstadtkinder wie ihr an einem idyllischen Freiburger Ökostadtteil interessant, was ist hier besonders, was fällt euch auf? Die Antwort von Paulina Unfried, 12, sind die Fotos auf dieser Seite. Der Vauban-Blick von Kalle Unfried, 10, findet sich auf der gegenüberliegenden Seite.

Die Bilanz: Nach vier Testtagen fanden beide Vauban dann doch „ganz okay“.

AUS VAUBAN PETER UNFRIED UND FAMILIE (FOTOS)

Im Sommer waren wir noch unschuldig mit dem Auto reingefahren – wegen des vielen Gepäcks. Vollbremsung, Fenster runtergekurbelt. Entschuldigen Sie, gute Frau auf dem Fahrrad, wo geht es denn hier in die Paul-Klee-Straße? Strenger Blick, strenge Stimme: „Des isch aber do ein autofreies Quartier.“ Diesmal kamen wir sicherheitshalber mit der Straßenbahnlinie 3 vom Freiburger Hauptbahnhof. Zwölf Minuten bis Vauban-Mitte. Familientageskarte für 9 Euro. Und ein viel besseres Gefühl.

Der Freiburger Ökostadtteil Vauban ist in den Blick der bundesrepublikanischen Gesellschaft geraten, nachdem dort bei der baden-württembergischen Landtagswahl Ende März 72,7 Prozent die Grünen wählten. Weltrekord.

Der Arbeitsauftrag lautete: Fahr mal mit Frau und Kindern hin und finde raus, wie diese grüne Mehrheitsgesellschaft so drauf ist. Ist ja gut zu wissen, falls das mit den Grünen so weitergeht, und wir bald alle so leben. Müssen.

Auf der einen Seite wird Vauban in aller Welt als Musterstadt der Zukunft bestaunt. Auf der anderen sind die Vorurteile und Klischees beträchtlich. Totalitäre Ökospießer, die Autos verbieten wollen. Besserverdiener. Schlecht angezogene Kampfmütter. Grauhaarige Altlinke, die Pferdeschwänze tragen und auch sonst so sind. Esoterische Quatschköpfe. Hedonistische Grünenwähler, die sich nur für sich selbst interessieren. Misstrauen begegnet einem, selbst wenn man hier nur probewohnt: Seid ihr auch Ökospinner?

Bei der Vorbereitung kriegte man zigmal die Geschichte von dem Vaubaner erzählt, der vorm Haus raucht und zu dem ein Nachbar sagt, dass er zum Rauchen gefälligst reinsolle. Draußen spielten schließlich Kinder. Hihi. Tenor: Nichts gegen Ökomoderne – aber doch nicht so.

Oder die vom Vaubaner, der bei Aldi einkauft und das Zeug in der Alnatura-Tüte nach Hause trägt. Tenor: Verlogenes Pack.

Wir haben uns für vier Tage in den Kleehäusern eingemietet. Vierzehn Eigentums-, zwölf Miet-, zwei Ferienwohnungen, von einer Baugruppe hingestellt. Es sind Null-Emissions-Häuser. Sie produzieren die Energie selbst, die sie verbrauchen. Mit einer Solaranlage auf dem Dach und Anteilen an einer Windkraftanlage im Schwarzwald. Die 10 Prozent Mehrkosten sollen sich in zehn Jahren amortisieren.

Ein erster Rundgang. Bei „Benny“ in der Bäckerei kaufen Frauen Dinkelbrötchen mit Saaten. Sicher Mütter, die gerade Jan-Philipp und Sarah in die Kita gebracht haben. Ein Zettel an einer Holzwand: „Mutter Erde hat gesprochen, in Japan und anderswo. Und nun ist es an uns zu hören.“

Aha: Es ist also überhaupt kein Problem, die Vauban-Klischees tatsächlich zu erleben. Aber wo sind die Leute, die einem erklären, was sie bedeuten?

Die Grüne sieht einen normalen Stadtteil

Die Frau, die hier 72,7 Prozent bekommen und den ganzen Wahlkreis mit 39,9 Prozent direkt gewonnen hat, heißt Edith Sitzmann und hat gerade den Fraktionsvorsitz der Regierungspartei übernommen. Sitzmann, 48, scheint eher der praktische Typ zu sein. Sie zog 2003 aufs Vauban. Das habe sich so ergeben. Vauban ist für sie „ein normaler Stadtteil, nur umweltverträglicher, mit Freiräumen für Kinder“ – und mit einer Vorwegnahme jener Bürgerbeteiligungsprozesse, die laut Koalitionsvertrag nun in ganz Baden-Württemberg vorangebracht werden sollen.

Wie erklären Sie die Dreiviertelmehrheit, Frau Sitzmann?

„Zum einen wohnen da wenige Leute, die Anhänger des sogenannten bürgerlichen Lagers sind. Zum anderen ging es bei der Wahl um den Wechsel in Baden-Württemberg. Die Frage der Atomkraft hat eine Rolle gespielt. Und natürlich kennt man mich als Nachbarin.“ Andere Vaubaner sagen: Ach, Sitzmann sei im Quartier den Wenigsten bekannt. Man würde hier auch einen grünen Besenstiel wählen.

Freitag. Im Keller bei den gemeinsamen Waschmaschinen. Eine Nachbarin kommt. Freundliches Nicken. „Wer seid denn ihr?“ – „Äh, wir sind in der Ferienwohnung einquartiert.“ Sie: „Aha. Schön, dass ihr da seid.“ Im Gehen, die Stimme leicht angehoben: „Das Licht im Flur bitte nächstes Mal ausmachen. Wir sind ein Sparhaus!“ Oh Gott, Ökohausmeister, also doch.

Patricia de Santiago sitzt im ersten Stock des Hauses 037 am zentralen Alfred-Döblin-Platz. Sie ist die Quartiersozialarbeiterin. Typ: Herz am rechten Fleck. Ist der Ökostadtteil ein Ghetto für Mittelschichtsfamilien der Erbengeneration? Nein, sagt sie. Es gebe Studierende, Wagenburgler, Familien mit zwei Gehältern. Generell hätten sich Leute hier zu Baugruppen zusammengeschlossen, weil sie sich eine Altbauwohnung in teuren Freiburger Vierteln wie der Wiehre nicht leisten konnten. Klar, es gebe auch Leute, denen es finanziell gut gehe. Wie anderswo auch. Und welche, die sich „total engagieren, ökologisch und sozial.“ Und andere, die profitierten. Ohne sich einzubringen.

De Santiago stammt aus Argentinien und lebt seit 25 Jahren in Deutschland. Sie hat mithilfe einer Förderung für Alleinerziehende gebaut. Der Anteil der Alleinerziehenden auf dem Vauban liegt bei über 10 Prozent. Stadtrekord. Warum? Sie vermutet, weil die Infrastruktur mit Schule, vier Kitas, Wohn- und Hausgemeinschaften das Alleinerziehen einfacher mache.

Grauhaarig, Pferdeschwanz – klischeegenervt

Ein paar Meter weiter, auf der anderen Seite der Straßenbahnschneise, sitzt Jürgen Messer auf seiner Terrasse. Er hat graue Haare und trägt einen Pferdeschwanz. Und die Vauban-Klischees gehen ihm auf den Senkel. „In den Medien – aber auch, wie sie hier gelebt werden.“ Die Familie zog vor elf Jahren her. Hauptsächlich wegen des Sohnes. Er war zehn, sie lebten in der Stadtmitte. Kinos, Kneipen, aber auch Autos, Angst, die ganze übliche Elterndröhnung. „Vauban war wie eine Befreiung“, sagt Messer. Junge ging, tschüss, kam Stunden später müde gespielt zurück. War am nahen Bächlein. Mit Freunden auf der Straße, der autofreien. Die Eltern mussten sich keine Sekunde sorgen. Es ist der häufigste Grund, auf den Vauban zu ziehen.

Beneidenswert: Unsere Kinder müssen sich in Berlin immer verabreden, meist drinnen. Wir sind der Fahrdienst.

Jürgen Messer hat Grün gewählt. „Es gab keine Alternative, den Politikwechsel voranzubringen“. Er ist Jahrgang 1958, hat eine klassische linke Sozialisation inklusive Häuserkampf und engagiert sich heute noch. Arbeitet beim Jugendbildungswerk und wohnt zur Miete. Also kein Großverdiener. Mit Esoterik hat er es nicht. Ein Öko ist er auch nicht, jedenfalls hängt er ihn nicht raus. Er hat ein Auto, das steht meist in der Quartiersgarage. Zur Arbeit fährt er mit dem Rad. Wenn ein fremdes Auto unerlaubterweise in seiner Straße steht, ruft er nicht die Polizei. Er macht es einem nicht leicht, ihn in eine Schublade zu tun.

Messer sieht es ähnlich wie die Sozialarbeiterin Patricia de Santiago. Die zwei Gruppen in Vauban seien zum einen die engagierten Menschen, die den Stadtteil von der Planungsphase bis heute als identitäres Projekt betreiben – und die anderen, die hier gern leben, für die das aber nicht identitär ist. Nur: „Die Deutungshoheit haben die, auf die die Klischees passen.“ Sie beanspruchten, für das „Wir“ zu sprechen. Dass es auch Vaubaner gibt, die es gar nicht toll finden, wenn die Wagenburg „Kommando Rhino“ im Stadtteil ein freies Gelände besetzt hält, werde vom „Wir“ eher schamvoll verschwiegen. Er sieht den großen Schritt zu einer weniger klischierten Identität darin, das Abweichende als Teil des Wir zu akzeptieren.

Samstag. Im Zeitungsladen gibt es Badische Zeitung, FAZ, die taz, alles da – aber keine Bild. „’tschuldigung, haben Sie keine Bild-Zeitung?“ Der Chef sieht sich im Raum um und holt sie dann unter dem Ladentisch hervor. Flüstert: „Wissen Sie, wegen der Kinder. Was da alles vorne drauf ist.“ Hihihi, wie putzig. Oder vielleicht: gar nicht so schlecht?

Einer, der sich von Anfang an engagiert hat beim Aufbau von Vauban, ist Jörg Lange, heute Geschäftsführer des Stadtteilzentrums Vauban. In seinem Büro im Haus 037 hängt eine Anti-AKW-Fahne. Lange ist 47, trägt Jack Wolfskin und fragt, welche Geschichte man hören will. Die Erfolgsgeschichte oder die andere?

Der Ort: Vauban ist ein junger Stadtteil der baden-württembergischen Stadt Freiburg. Auf einer Größe von etwa 40 Hektar leben knapp 5.000 Einwohner, davon 1.500 Kinder. Nach ökologischen und sozialen Kriterien konzipierten engagierte Bürger Ende des letzten Jahrhunderts auf einem verlassenen Kasernengelände einen neuen Stadtteil – und setzten ihre Utopien teilweise gegen die Kommunalpolitiker durch. Der CDU-Ortsverband hat fünf Mitglieder. „Zumindescht sind wir da“, sagt der Vorsitzende. Die Grünen hätten gar keinen Ortsverband.

Die Bedeutung: Vauban gilt als Role Model für ein modernes, sozial-ökologisches Quartier und ist für die einen Sehnsuchtsort – und bestätigt anderen ihre Vorbehalte gegenüber der Ökomoderne. Wenn Mütter Kinder und Wasserkasten mit gelben Fahrradanhängern chauffieren, nennen manche das „Vauban-Rikscha“. Der Stadtteil repräsentierte 2010 die Stadt Freiburg und ihre Klimafreundlichkeit auf der Expo im chinesischen Schanghai. Im Freiburger Rathaus sitzt seit 2002 der grüne Bürgermeister Dieter Salomon.

Die Erfolgsgeschichte geht so, dass es keinen zweiten Stadtteil gibt wie Vauban, von Bürgern entwickelt, mit dem größten autoreduzierten Projekt im Land. Nicht autofrei übrigens. Es stehen eine Menge Autos rum. Aber es sind kaum welche auf der Straße. Bloß Bobbycars. Vauban hat 200 Autos pro tausend Einwohner, in der anderen Welt sind es etwa 500. Statt Parkplätzen vor dem Haus hat man Grünflächen, Spielplätze, Carsharing und drei Straßenbahnhaltestellen.

Die andere Geschichte geht so, dass es nicht mehr weitergeht, nicht auf dem Vauban und nicht darüber hinaus. Dass viele sich „auf Lorbeeren ausruhen, mit denen sie nichts zu tun haben“. Das Erfolgsgeheimnis des grünen Oberbürgermeisters Dieter Salomon sei, „dass er aus Freiburg keine grüne Stadt gemacht“ habe. Sondern was? Nichts.

Wahr ist, dass Freiburg seine Klimaschutzziele für 2010 um Längen verfehlt hat. Der Stromverbrauch ist gestiegen statt gesunken. Und statt 10 Prozent regenerativen Stroms hat man erst 3,7 Prozent.

Lange hat als Ökologe die Klee-Passivhäuser entworfen, in denen wir uns eingemietet haben. Er lebt seit einem Jahrzehnt in einem energieeffizienten Passivhaus. „Das ist für mich selbstverständlich“, sagt er. Es sei aber längst nicht Standard in Vauban. Nicht einmal in Vauban. Die dringend notwendige Energiewende? „Man würde hier schon gern eine Energiewende haben. Die Frage ist, was man selbst bereit ist, dafür zu tun.“ Damit hat Lange mal eben so die zentrale Frage des 21. Jahrhunderts aufgeworfen.

Lange war einer der Ersten, er fürchtet, es ist vorbei

Er selbst fliegt nicht, und dass er kein Auto hat, versteht sich von selbst. Er lebt allein, und sein Gesamtverbrauch für Strom, Warmwasser und Heizung entspricht 170 Litern Heizöl. Seine Jahresnebenkosten liegen unter 300 Euro. Spektakulär! „Das ist nicht spektakulär“, brummt er. Woher soll der Verbrauch denn kommen, wenn man das Haus vernünftig baut? Eine kleine Familie könne hier mit 1.000 Kilowattstunden Strom leben. In der anderen Welt hält man 4.000 für normal. Für Lange klingt das fast barbarisch angesichts der Klimarealität. Wie auch die Frage ist, ob wir generell nicht barbarisch ungebildet sind in diesem zentralen Fach? „Wenn man mich fragt: ja“, sagt Lange. Im Freiburger Gemeinderat kenne sich kaum einer mit Energie aus. „Bitten Sie die mal, End-, Nutz- und Primärenergie zu erklären … “ Letztlich sei Vauban weitgehend ohne Kommune, Grüne und Salomon entwickelt worden.

Lange glaubt daran, dass sich – „wenn überhaupt“ – nur unten etwas bewegt. Es gebe zwar immer mehr Grünen-Wähler, weil die Grünen in der Mitte angekommen seien, aber keine neuen Leute mehr, die sich so engagieren, dass Projekte wie Vauban rauskommen würden.

Zu Hause in der Nullemissionsferienwohnung erst mal End-, Nutz- und Primärenergie googeln. Aha: Primärenergie ist Energie in ihrer ursprünglichen Form – als Kohlestück oder Öl. Endenergie ist der Strom, der aus der Steckdose kommt. Nutzenergie ist der umgewandelte Strom in Wärme oder Licht.

Die Wohnung fühlt sich übrigens gut an, aber nicht anders. Man kriegt nicht mit, dass die Wände vernünftig gedämmt sind, die Fenster dreifach verglast und die Be- und Entlüftung automatisch funktioniert. Dass Wärme und Warmwasser durch eine solarthermische Anlage auf dem Dach und ein erdgasbetriebenes Blockheizkraftwerk im Keller des zweiten Kleehauses erzeugt wird. Das ist einfach so.

So ein Nullemissionshaus wird eigentlich nur noch von einem Plusenergiehaus herausgefordert. Der Vater dieses Häusertyps ist Rolf Disch. Er hat auf der nördlichen Seite der Merzhauser Straße den anderen Teil von Vauban hingebaut, seine Solarsiedlung. Alle 59 Häuser sind Plusenergiehäuser. Sie sind nach Süden zur Sonne gebaut und produzieren mit ihren Solaranlagen auf dem Dach sogar mehr Energie, als sie verbrauchen.

Disch, 67 Jahre alt, ist ein Pionier der ökologischen Architektur und gehört zu den Menschen der Generation des Solarpropheten Hermann Scheer, die früh die Notwendigkeit und die Chancen einer Energiewende sahen. Er hat 1977 vor Wyhl gegen Filbingers Wasserwerfer gekämpft, als der damalige CDU-Ministerpräsident dort ein Atomkraftwerk hinstellen wollte. Das war die Geburtsstunde des grünen Freiburg – ökologisch und parteipolitisch.

Es ist ein sonniger Tag, aber das ist ja hier normal. Disch sitzt in seinem Büro im Sonnenschiff. Das ist ein Dienstleistungsgebäude, das seine Energie regenerativ selbst produziert. Nebenan sind GLS-Bank – Motto: „Geld ist für die Menschen da“ – und der Ökosupermarkt Alnatura. Disch trägt ein kurzärmliges Hemd, freundliches Lächeln im Gesicht.

Haben Sie hier ein solares Ghetto für Besserverdiener hingestellt, Herr Disch?

„Quatsch.“

Erstens seien Plusenergiehäuser wirtschaftlich, zweitens habe er keine Lust, nur für eine betuchte Klasse zu bauen. Es gehe um integrale Stadtteilkonzepte. Er will ein, zwei, viele Vaubans bauen. Endlich. Er sagt, wir hätten Geld ohne Ende, die Frage sei einzig, wohin die Ströme flössen. „Im Moment habe ich den Eindruck, in die Zerstörung unserer Zivilisation.“ Gerade hat er eine Petition verfasst, wo er Kanzlerin Merkel und Regierung auffordert, die Energiesparpotenziale beim Bauen und Wohnen endlich zu nutzen. Manche Politiker, sagt er an einer anderen Stelle des Gesprächs, seien gar nicht interessiert an Stadtteilen der ökologischen Moderne. Weil man damit Grünen-Wähler horte oder gar züchte.

Disch ist weltberühmt und fährt trotzdem mit Zug und Faltrad zu seinen Terminen. Das geht offenbar. Und er ist, das ist nun wirklich eine monumentale Überraschung, SPD-Mitglied. Seit 42 Jahren. Ist das Ausspielen von ökologischer gegen soziale Frage nicht Geschäftsgrundlage dieser Partei? Er lächelt. „Hermann Scheer war auch SPD-Mitglied.“ Dass er auch SPD wählt, hat Disch nicht gesagt.

Die Regierung: An diesem Donnerstag ist die Regierung von Winfried Kretschmann im Plenarsaal des Stuttgarter Landtags vereidigt worden. 73 von 138 Abgeordneten wählten Kretschmann zum Ministerpräsidenten. Er erhielt also mindestens zwei Stimmen von CDU oder FDP. Im Stuttgarter Landtag hat seine Partei 36 Sitze, die SPD 35. Die Mehrheit von Grün-Rot beträgt vier Sitze. Bei der Wahl im März hatten die Grünen in Baden-Württemberg 24,2 Prozent und in Freiburg 43 Prozent der Stimmen erhalten.

Die Erklärung: Kretschmanns Ministerpräsidentenschreibtisch steht in der Villa Reitzenstein auf dem Berg namens Bopser. Die Villa befindet sich im Stadtbezirk Stuttgart-Ost, wo die Grünen auf 38,9 Prozent kamen. Am Mittwoch, den 25. Mai, wird Kretschmann eine Regierungserklärung abgeben. Ein Signal an Autobauer wie Daimler oder Porsche hat Verkehrsminister Winfried Hermann schon vorher gesendet: „Die teuren Spritschlucker sind ein Produkt der Vergangenheit.“

Die Vorsitzende: Zur Fraktionsvorsitzenden der Grünen ist Edith Sitzmann gewählt worden. Sie wohnt in Vauban, Freiburg.

Sonntag. Eine McDonald’s-Tüte weht über das Grün zwischen Kleehäusern und Straßenbahnhaltestelle. Stirnrunzeln. Wer macht denn so was?

Warum sind die Vorbehalte gegenüber Menschen groß, die in gedämmten Häusern leben und ihren Strom selbst produzieren, mit weniger Autos und Parkplätzen, dafür mehr Grünflächen, Partizipation und nachbarschaftliches Leben als üblich? Warum nimmt man das Schlimmste von ihnen an, moralisch und ästhetisch?

Es sei, sagt der Frankfurter Sozialpsychologe Christian Schneider, „Wut als Angstabwehr“. Dahinter stehe „die Angst, dass man – gemessen an den Vaubanern – sein eigenes Leben falsch angesetzt hat“. Es sei schlechtes Gewissen angesichts der Realität des Klimawandels. Und Neid. „Wenn dieses ‚andere Leben‘ plötzlich doch in einer entscheidenden Dimension möglich zu sein scheint, zudem noch Spaß macht und dann auch noch ökonomisch was einbringt – das ist die ultimative Katastrophe für alle, die noch nicht so leben, damit kokettieren oder es lauthals ablehnen.“

Kann es sein, dass Vauban gar kein Exot ist?

Ein Gedanke, der sich nach vier Tagen verfestigt hat: Es könnte sein, dass Vauban gar kein Exot ist, sondern grade in seinem heterogen-konfrontativen Mix aus Altengagierten und Neubürgern ein Vorläufer für jene Gesellschaft, die sich gerade unter Ächzen und Stöhnen herausbildet.

Die sozialökologische Moderne, die am Rand der Gesamtgesellschaft von wenigen linken Ökos, Autonomen und anderen Bewegten angeschoben wurde, gehört bei immer mehr bürgerlichen Menschen zum Wertekanon. Allerdings definieren sie sie anders, als die alten Recken das gern hätten. Und genau deshalb wählen sie die Grünen.

Montag. Abschiedsgang durch unser Quartier. Es ist kein gutes Gefühl, sich auf den Weg zurück in eine miserabel gedämmte Berliner Altbauwohnung zu machen. Wie eine Reise in die Steinzeit. Auf dem Weg zur Straßenbahn Totalaufregung. Ein Auto! Was ist denn das für ein Scheißkarren da in unserer Straße? Wir erwägen ernsthaft, die Polizei zu rufen.

Verzicht, das ist eine zentrale Erkenntnis unseres Wohntests, ist eine Frage der Perspektive. Es fällt schwer, auf Straßen ohne Autos zu verzichten, wenn man sie einmal hat.

Kurz vor der Haltestelle steht verlassen ein havariertes Bobbycar ohne Hupe. Es leuchtet rot in der Morgensonne wie ein rostender Cadillac neben dem Highway Number 1.

Peter Unfried, 47, ist taz-Chefreporter und lebt sonst im 4. Stock in Berlin-Kreuzberg