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Nach wie vor Brandenburg

Christopher Clark hat den altmodischen Gegenstand Preußen modern betrachtet. Sein Werk ist eine historiografische Meisterleistung – und noch dazu hervorragend geschrieben

VON ALEXANDER CAMMANN

Jede Generation muss die Geschichte neu schreiben: Diesem Grundgesetz historischer Wissenschaft folgen die professionellen Vergangenheitsinterpreten seit ewigen Zeiten; hierin liegt die Ursache für wechselnde Moden und wandelnde Forschungsperspektiven. Manche Ereignisse, Figuren und Prozesse der Geschichte dämmern somit in einem Dornröschenschlaf ein paar Jahre dahin, bis ein Historikerprinz kommt und sie wachküsst. Das jeweilige Objekt der Geschichte erlebt dann, neu geschrieben, seine Renaissance.

Das reale Preußen schläft nicht nur, sondern ist lange tot, spätestens seit dem Alliierten Kontrollratsgesetz, das am 25. Februar 1947 die Auflösung Preußens verfügte. Hin und wieder plädieren zwar brandenburgische Provinzpolitiker für ein „Bundesland Preußen“, was aber ebenso Folklore ist wie die von Touristen fotografierten „Langen Kerls“ in Potsdam. Preußen als Forschungsobjekt hingegen wurde soeben aufgeweckt, nachdem es müde geworden war von den alten Interpretationskämpfen – einerseits Hort des deutschen Militarismus und autoritäre Keimzelle der NS-Diktatur, andererseits Ort friderizianischer Aufklärung und Heimat der 20.-Juli-Attentäter. Preußens Historikerprinz heißt Christopher Clark, 1960 geboren und in Cambridge Europäische Geschichte lehrend. Seine 900-seitige Geschichte Preußens hat enthusiastische Reaktionen ausgelöst – zu Recht.

Tatsächlich vollbringt Clark zwischen den beiden Sätzen „Am Anfang war Brandenburg“ und „Am Ende war nur noch Brandenburg“ eine historiografische Meisterleistung. Denn der Autor versöhnt tiefschürfende Analyse mit erzählerischen Fähigkeiten, die meilenweit entfernt sind von der hierzulande üblichen Drittmittelantragsprosa. Einmal mehr wird verständlich, weshalb deutsche Verlage so häufig die Kosten auf sich nehmen, die Bücher angelsächsischer Historiker zu übersetzen. Clark gelingt es in seiner Synthese stets, das Ineinandergreifen von Strukturen, Prozessen und Ereignissen elegant zu präsentieren, mit ausgeprägtem Hang für szenische Momente.

Wichtiger als der Lesegenuss ist jedoch Clarks moderner Blick auf den scheinbar altmodischen Gegenstand Preußen, immer auf der Höhe der Forschung: Er bündelt die Geschichte der Religion, des Alltags, der Kriege und der Mentalitäten, der Diplomatie, der Gesellschaft und der Ideen zu einer multiperspektivischen „Histoire totale“, zwischen Pietisten und Hugenotten, König Friedrich, Hegel, den schlesischen Webern und dem Zündnadelgewehr im preußisch-österreichischen Krieg von 1866.

Das Phänomen Preußen wird bei Clark zu einem Kunstprodukt in der Mitte Europas, geboren vor allem aus den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges. Der Großmachtstatus sollte danach vor solchen Verheerungen um jeden Preis bewahren; dennoch fanden auch die schlesischen und napoleonischen Kriege auf eigenem Territorium statt. Staatsfixiertheit und Organisationsmanie als Überlebenstechnik waren die Folge für dieses prekäre Gebilde, das im Unterschied zu den anderen europäischen Mächten Frankreich, Schweden, Großbritannien, Russland keine Nation war und auch nicht sein konnte. „Auch der Marxismus stammte aus Preußen.“ Clark erzählt ebenso von der geistigen Faszination solcher Staatlichkeit, die Hegel und Marx prägte.

In seinem Willen, preußische Geschichte nicht zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus zu degradieren, inszeniert Clark das Nachleben Preußens bis 1945, nachdem es im Reich 1871 aufgegangen war, zu sehr als Epilog. Hier hätte man die preußischen Konfliktlinien stärker herausarbeiten können, die Deutschland belasteten, gerade weil das historisch überlebte Preußen so mächtig war: jene eigenartige Melange aus Modernität und Reaktion, deren zerstörerisches Potenzial sich immer wieder zeigte.

Gleichsam ein Komplementärstück zu Clarks dickleibiger Gesamtdarstellung ist die meisterliche Miniatur über die Geschichte der Pfaueninsel, die Wolf Jobst Siedler in den Achtzigern veröffentlichte und die nun sein einstiger Verlag wieder aufgelegt hat. Wer an den historischen Novellen Stefan Zweigs Gefallen findet, wird Siedlers preußische Fantasie schätzen. In die träumerische Idylle der Pfaueninsel, inmitten der Havel zwischen Potsdam und Spandau, spiegelt Siedler die preußischen Jahrhunderte hinein, ein Ort als Symbol: „Gleich wird wieder die Geschichte kommen, man wollte, sie käme nicht.“

Er erzählt nicht nur, wie Könige sie zur Parklandschaft machten, sondern auch, in hübscher Überhöhung, vom Feuerschein über der Insel. Einst brannten hier Werkstätten königlicher Alchimisten, 1848 leuchtete Bakunins Lagerfeuer von der Insel Schwanenwerder herüber, als der „Kartätschenprinz“ Wilhelm aus dem revolutionären Berlin in einem Kahn auf die Insel floh, 1945 sah dann das Mündungsfeuer russischer Geschütze, als Hitlers Kuriere sich auf der Insel verbargen. Siedlers preußisches Fazit gleicht Clarks Bilanz: „Nur Brandenburg ist geblieben – es war eher da, und es überdauerte, was nach ihm kam.“

Christopher Clark: „Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600–1947“. A. d. Engl. v. Richard Barth, Norbert Juraschitz und Thomas Pfeiffer. DVA, München 2007, 896 Seiten, 39,95 Euro; Wolf Jobst Siedler: „Auf der Pfaueninsel. Spaziergänge in Preußens Arkadien“. Siedler, München 2007, 112 Seiten, 14,95 Euro

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