Am Rand des Polarkreises

Leben und Sterben in Island: „Schattenfuchs“, eine schonungslose nordische Sage, geschrieben vom Björk-Songtexter und Allroundgenie Sjón

Es gibt zwei Sorten Polarfüchse: eine, der im Winter weißes Fell wächst; eine weitere, deren Fellfarbe in der kalten Jahreszeit von hellgrau über dunkelblau bis schwarz variiert. Dunkle Exemplare, Schattenfüchse genannt, sind eine rare Gattung. Polarfüchse wurden Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts stark bejagt, es herrschte reger Handel mit den Fellen. Die seltenen schwarzen Felle waren äußerst begehrt.

Island, Januar 1883. Landpfarrer Baldur Skuggason, Antagonist im neuen Roman des isländischen Schriftstellers und Allroundgenies Sjón, ist auf der Jagd. Seine schlaue Beute aber ist nicht leicht zu erlegen. Denn: „Erdschwarze Füchse sehen Steinen so verblüffend ähnlich, dass es wie Hexerei erscheint.“ Mit der Hexerei im Bunde stehen, wie nicht nur Island- und Mythenkenner wissen, die Naturgewalten. Prompt gerät der Pfarrer in einen gefährlichen Schneesturm. Mit Baldurs Finger am Gewehrabzug endet der erste Teil von Sjóns nordischer Volkssage, ein Prolog, der mit seltsam poetischer, auf Leitmotive zurückgreifender, kraftvoller Sprache in ein mysteriöses Geschehen führt.

Sigurjón Birgir Sigurdsson, wie der Autor und bildende Künstler vollständig und eigentlich heißt, hat bereits im Alter von 15 Jahren begonnen, regelmäßig Lyrik zu publizieren, der teils surreale, häufig den Tod thematisierende Prosa folgte. Neben Kinderbüchern, Theaterstücken und Drehbüchern etwa für Lars von Triers „Dancer in the Dark“, schrieb er Songtexte für Björk oder das Eröffnungslied der Olympischen Spiele in Athen.

Die eigentliche Handlung von „Schattenfuchs“ beginnt im zweiten Teil, einige Tage bevor sich Baldur auf die Jagd begibt. Wo im Prolog der Tod nur in Aussicht steht, geht der Hauptteil gleich in medias res: „Haaallo, ich komm wegen der gestorbenen … he, hör mal, ich soll die verdorbene … die erworbene … ähm nein … die vergorene, gefrorene … also, die Frauenleiche, die soll ich abholen …“ So faselt Hálfdán Atlason, der Verlobte der „geistesschwachen“ Abba, einer Frau mit Downsyndrom, die als siebzehnjähriges Mädchen auf einem gestrandeten Segelschiff gefunden wurde. In einer Kajüte festgekettet, stand sie der Besatzung für sexuelle „Gefälligkeiten“ zur Verfügung. Hálfdán ahnt nicht, dass es Abbas toter Körper ist, den er abholen soll.

In schonungslosen Details beschreibt Sjón das einstmals übliche Schicksal sogenannter Mongolenkinder: „Noch bevor die Kinder ihren ersten Schrei taten, legte die Hebamme ihnen schnell die Hand über Mund und Nase – und führte die kleinen Wesen wieder jenem großen Seelenhort zu, aus dem der Geist der Lebenden gespeist wird. Sodann deklarierte man das Kind als Totgeburt.“ Ein eigenes Kapitel also, wie Abba überhaupt am Leben blieb. In Rückblicken lässt der Autor ihre grausige Geschichte Revue passieren. Abba, ihr Ziehvater, der Kräuterkundler Frišrik B. Frišjónsson, der „Einfaltspinsel“ Hálfdán Atlason und Baldur, der diabolische Pfarrer, bilden das skurrile und damit typisch isländische Figurenensemble, um das sich der rätselhafte, kurze und überaus fesselnde Text dreht. Erst ganz am Schluss fügen sich in einem Brief Frišriks allmählich die einzelnen Puzzleteile zu einem Ganzen. Baldurs Geheimnis, das, wie der Leser schnell vermutet, mit dem Schicksal Abbas eng verwoben ist, lüftet sich. Er ist Abbas Vater.

Der Schlussteil setzt den Handlungsstrang der Fuchsjagd fort. Baldur, der sein Kind an die Seeleute verkauft hatte, wurde von einer Lawine verschüttet. „Am fünften Tag unter dem Gletscher begann der Pfarrer um seinen gesunden Verstand zu fürchten. Und da tat er das, was einem Isländer zuerst in den Sinn kommt, wenn er irgendwo festsitzt und sich alleine nicht helfen kann. Er beginnt Rímur zu singen, Kehrreime und Gedichtstrophen aufzusagen, und dies alles laut und kunstvoll.“ Raffiniert verwebt der Dichter seinen romantischen, überwiegend realistischen Erzählstil mit fantastischen Elementen. Wahnhafte Selbstgespräche des entkräfteten Pfarrers weichen absurden Dialogen mit der wiederauferstandenen Füchsin. So fachsimpeln sie über das Thema Elektrizität, geben einander Rätsel derben Inhalts auf. Parallelen zwischen dem toten Tier und der toten Abba bleiben bei aller Evidenz der Bilder ebenso unaufdringlich wie die Verhandlung ethischer Fragen zwischen den Zeilen, die Ansätze einer kritischen Moral. Für „Schattenfuchs“ wurde Sjón der Literaturpreis des Nordischen Rates 2005 zuerkannt. Polarfüchse, weiß oder schwarz, sind heute in Island selten geworden. TOBIAS SCHWARTZ

Sjón: „Schattenfuchs“. Aus dem Isländischen von Betty Wahl. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007, 126 Seiten, 16,90 Euro