Der Großstadt-Indianer

Seine Briefe an die „Bild“-Leserschaft sind so unberechenbar wie seine ganze Karriere. Die Legenden über ihn sind wie Wanderdünen. Sagt er. Wie tickt Franz Josef Wagner?

VON ALEXANDER KÜHN

Eines Tages beschloss Franz Josef Wagner, Winnetou zu retten. Der Häuptling war gerade von einem Sioux erlegt worden, Old Shatterhand und die Apachen beweinten ihn. Allein der Seppl, wie die Mutter ihren Franz Josef nannte, ein Kind von sechs oder sieben Jahren, kämpfte für seinen Helden, anstatt sich Karl May zu fügen. Er spann sich ein neues Ende zurecht. Eines, das Winnetou am Leben lässt. Der Bub, anders mag man es sich nicht erklären, hatte bereits die grundlegenden Regeln des Boulevardjournalismus verinnerlicht: 1. Menschen brauchen Geschichten. 2. Die Welt ist so, wie der Schreiber sie sich erschafft. Nun kann es durchaus sein, dass auch diese Anekdote schlicht erdichtet ist.

So viel ist sicher: Der Seppl wuchs zu einem tapsigen Kerl von einsneunzig heran, die Haare zottelig, das Gesicht so grob wie die Motorik. Seine Gedanken aber, die warf er auch als Erwachsener wie bunte Bälle in die Luft, darauf vertrauend, dass zumindest einige wieder unten ankommen würden. Als junger Reporter bei Bild. Als Chefredakteur der Bunten, dort gern bis in den frühen Morgen. Später in Berlin bei der B.Z. Und so tut er’s heute noch, fünfmal die Woche, wenn er für Bild seine „Post von Wagner“ komponiert. Lieber Jürgen Klinsmann. Liebe 36 Amoklauf-Opfer von Berlin. Liebes Christkind. Liebe Affenhitze.

Das ist ja das Geheimnis dieses Befindlichkeitskastens auf Seite 2: dass man nie weiß, was einen dort anspringt. Frühlingsfrisch duftende Schwärmereien eines Verliebten, der Angela Merkel zur „German Rose“ erhebt; der Geruch von frisch Erbrochenem, mit dem Wagner sich angesichts eines Kindesmörders eines akuten Weltekels entledigt; verzweifelte Schreie nach Frieden auf Erden. Es ist ein Poltern und ein Säuseln. Ein Jubilieren, Lamentieren, Delirieren. Es ist ein täglicher Kampf mit Metaphern, Zeichensetzung und Grammatik – ausgefochten in der Zuversicht, dass die 50, 60 Zeilen mehr Leser finden werden als Hans-Ulrich Jörges, Harald Martenstein und Axel Hacke zusammen.

Der Arbeitstag wird zelebriert wie eine heilige Feier, nach festem Ritus. Und manchmal, sagt Wagner, singe er sich seine Sätze vor. Wegen der Melodie. Die Liturgie beginnt, introibo ad altare Dei, um halb zwölf mit einem Zug durchs Internet. Wagner sitzt am Laptop in seiner Berliner Wohnung, das Hemd spärlich zugeknöpft, üppig quillt das Brusthaar. Die beiden morgendlichen Außentermine hat er bereits hinter sich: Tennis und, wegen der Bandscheiben, die Physiotherapie. 14 Uhr: Telefonat mit der Bild-Chefredaktion. Ab 15 Uhr: Wildes Assoziieren. Anrufe bei der journalistischen Telefonseelsorge. Mal hat Roger Köppel Dienst, einst Weltwoche, dann Welt, jetzt wieder Weltwoche – Wagners Bewunderer. Oder Matthias Matussek, Kulturchef beim Spiegel – Wagners Tennispartner und Best Buddy, Verbalrabauke wie er. Auch gern genommen: der Lebensgefährte seiner Tochter, der schreibt für den Stern. Je nach Thema. „Ich brauch mal ’n Satz“, brummt Wagner dann ins Telefon. Oder: „Mir fehlt ’n Wort.“

Vielleicht braucht er ja auch die Gewissheit, in der selbstgewählten Einsamkeit seiner Charlottenburger Einmannwohnung: eine Truppe von Leuten zu haben, die ihm zur Verfügung stehen. Das Gefühl, noch immer eine Redaktion zu befehligen, so wie früher bei der Bunten. Mit Chefredakteursgehalt. Mit Dienst-Mercedes. Mit einer Sekretärin, die sich bei Springer in der Kochstraße um seine Post kümmert (also um die an ihn). Mit dem Luxus, dort ein Büro zu haben, aber nie hinzugehen. Und der Paris Bar als abendlicher Kantine, in der sich die Hofnarren der Republik versammeln, wo der Friseur Udo Walz auf sein Wohl trinkt und wo man ihn, den Schreiber, dann mit Lob abfüllt, weil er dies oder jenes wieder so entzückend benannt habe.

Früher, als er die Bunte machte, weckte Hans, der Butler, ihn in der Früh mit Pfefferminztee. Heute gönnt Wagner sich eine Putzfrau, die ihm, und das erzählt er mit anrührendem Stolz, „einen Service bietet wie im Mittelklassehotel“. Sie faltet ihm ein Eckchen ins Klopapier und versorgt ihn mit Bild, taz, F.A.Z. und Süddeutscher. In den Espresso muss stets eine halbe Tablette Süßstoff. Von der Marotte, ihn mit San Pellegrino zuzubereiten, ist Wagner inzwischen abgekommen. Die Maschine sei zu oft verkalkt gewesen, „früher in der Redaktion war mir das ja egal, da waren es verlagseigene Maschinen, heute muss ich sie selber bezahlen“. Am Wahlsonntag 2005 wollte die Post für Montag erledigt werden, Wagners Gedanken waren schwer, das Texten war es auch und die Lage unübersichtlich: Wer hatte nun gewonnen? Schröder? Merkel? Wer sollte denn nun Post bekommen, verdammte Scheiße? Wagner nahm Fahrt auf, läutete bei seinen Helfern durch. Neue Hochrechnungen brachen über ihn herein, Wagner riss das Ruder herum. Telefonierte. Schipperte weiter. Vermeldete schließlich: „Hab jetzt was geschriem.“ Einen Brief an Gerhard Schröder, den Toten, der von innen gegen den Sarg klopft.

Doch, das macht Wagner zu schaffen: wenn die Welt nicht so einfach einzuteilen ist in Sieger und Verlierer. In Gut und Böse. Denn das ist es, was er täglich virtuos betreibt: von großen Kämpfern erzählen und von Ungeheuern, von Göttern und Gefallenen, von Engeln und vom Satan. Grautöne: never. Da wird Deutschland zu einem Land, „so schön, dass einem die Tränen kommen“, der iranische Präsident Ahmadinedschad wird zum „fauchenden Teufel“ und die SPD-Politikerin Andrea Nahles, nach deren Wahl zur Generalsekretärin der Parteivorsitzende Franz Müntefering hinschmiss, zur „Münte-Mörderin“. Und in Schröder und Lafontaine erkennt Wagner „Kain und Abel“.

Der Wagner-Seppl. Lehrerkind. Klosterschüler. Sonntags erzählte der Pfarrer immer so wundersame Geschichten. Von einem, der übers Wasser ging. Oder es in Wein verwandelte. Fantasy fürs Volk. Schlicht, wortkarg, einprägsam. Es war die Zeit, als die Schulkinder in ihren Büchern ein Bild hatten: Ein Mädel geht übers Brückerl, geleitet von einem Engel. Komprimierte Sentimentalität, wie sie heute noch an manchen Tagen aus Wagners Briefen trieft, etwa wenn er King Kong gesehen hat und der Affen im Käfig gedenkt: „In meinem Zoo in Berlin kommen mir die Tränen.“ Oder wenn er über seine Mutter schreibt, die er, auch nach ihrem Tod, verehrt wie ein guter Katholik die Jungfrau Maria.

Ach, wie liebte er als Kind die Märchen; später, bei der Bunten, wurde er selber zum Erzähler, sang von Kaiserinnen und Prinzessinnen, bisweilen genügte ihm ein Satz für ein ganzes Leben, auch für ein so schillerndes wie das der Tina Onassis: „Erst war sie dick, dann dünn, dann wieder dick und dann tot.“ Und Heldensagen! Siegfried, der Drache, Zwerge, Walküren. Und einmal durfte Franz Josef Wagner tatsächlich eine Heldenfigur erretten. Ein Pariser Coiffeur, der Zugang hatte zu Marlene Dietrichs Apartment, lichtete mit einer kleinen Kamera die alte Dame ab, die sich der Öffentlichkeit längst entzogen hatte. Und als sie da auf seinem Schreibtisch lag, die gewesene Göttin, Großmutter nun, sich schutzsuchend ein Handtuch ins entsetzte Gesicht pressend – da kaufte Wagner die Bilder und schickte sie der Dietrich nach Paris, ohne eines davon in der Bunten gedruckt zu haben. Marlenes Dankesbrief hütet er bis heute in einer Plastikhülle. „Sie sind wohl der einzige Mann auf der Welt, der erstklassige Prinzipien und Sitten hat“, gurrt die Dietrich da in eleganten Altfrauenbuchstaben auf hellblauem Büttenpapier. „Möge der Himmel Sie beschützen.“

Und dann gab es noch den Tag, als Wagner den Heldentod sterben wollte. So zumindest wird’s kolportiert. Es war eines Samstags früh um acht, in der Nacht war wieder kräftig Weißwein geflossen in der Bunte-Redaktion, das Heft mochte nicht fertig werden. Auf seiner Dachterrasse ein völlig fertiger Chefredakteur, der Anstalten machte, über die Brüstung zu klettern. Der Verleger werde ihm kündigen, jammerte er. Er habe schon wieder die Andruckzeiten ignoriert! Sein journalistisches Ende stehe bevor! Er werde sich hinunterstürzen. „Das wirst du nicht tun, Franz Josef“, sagte eine Redakteurin, zog ihn am Hosenbund zurück ins Büro, und so lebt er heute noch.

„Alles Unsinn“, blafft Wagner, wenn man ihn darauf anspricht. Wie all die Schauermärchen, die ihn zum Werwolf stilisieren, zum Irren vom Dienst, zum Aschenbecher und Bleistifte werfenden Scheusal. „So was habe ich nie getan“, sagt er, schaut einen sanft an und wird ganz lyrisch: „Diese Geschichten sind Wanderdünen. Sie verwehen und kehren wieder in veränderter Form.“ Es wird berichtet von der Praktikantin, die sich nachts um drei durch den Notausgang verdrücken wollte, als Wagner sie anherrschte: „Machen wir hier etwa Kurzarbeit?“ Von einer Redakteurin, die er vor versammelter Mannschaft als „Mutter aller Schnecken“ beschimpfte. Und von jener Nacht, in der er die Kleintexte zu einer Strecke herbstlicher Fotos umschreiben wollte, weil: alles Scheiße. Und ein Redakteur sagte: „Franz Josef, das würde ich nicht tun. Das sind Zitate von Goethe und Schiller.“ Unsinn, sagt Wagner, diese Episode kenne er auch nur aus Erzählungen, aber in einer anderen Version: „Ich habe gehört, die Texte sollen von Heinrich Heine gewesen sein.“

Hubert Burda vertraute offenbar auf das Credo von Gerd Bucerius: „Nur mit Halbverrückten kann man Zeitung machen“, und übertrug Wagner zusätzlich zur Bunten 1991 noch ein zweites Blatt, die Super!-Zeitung. Günter Prinz hatte sie sich ausgedacht, als Bild für den Osten. An Wagner lag es nun, sie aus der Taufe zu heben, er berserkerte wie gewohnt, schaffte es, das Niveau der Bild zu unterbieten, die Anzeigen blieben aus. Nach 49 Ausgaben wurde Wagner bei Super! entsorgt; was blieb, war die Erinnerung an die legendäre Schlagzeile: „Besserwessi mit Bierflasche erschlagen“. Bei der Bunten, wo ihn Schlusszeiten und Anzeigenkunden von jeher einen Kehricht interessierten, beerbte ihn bald darauf Beate Wedekind. Doch der war noch weniger Glück beschieden, sodass Wagner bald Nachfolger seiner Nachfolgerin wurde – bis Burda ihn sich nervlich und finanziell nicht mehr leisten wollte. 1998 wurde Wagner Chef der B.Z., zweieinhalb Jahre ertrug man ihn da.

Vielleicht kann man es so sagen: Franz Josef Wagner ist weit entfernt von der Genialität, von der er sich vielleicht umfangen wähnt; doch ein größerer Literat, als es seine täglichen Kurzmitteilungen erkennen lassen. Ein Buch über Boris Becker schrieb er und eins über Franz Beckenbauer – ein junger Gott der eine, der andere Kaiser, drunter macht’s ein Wagner nicht. Und vier Romane brachte er zustande, ganz anständige. Sie erzählen von Reportern, die in die Welt hinausziehen. Von vier Jungs, die einen Geldtransporter überfallen. Von Männern, die jede Frau für ein Abenteuer gewinnen, aber keine fürs Leben.

Hemingway. Steinbeck. Capote. Sie waren die Helden seiner Jugend. Schriftsteller wollte er werden, und er trug dieses schmonzettige Bild im Kopf: auf der Veranda sitzen am Ozean, umgeben vom Rauschen der Wellen und dem Klappern der Schreibmaschine. Um das Leben zu beschreiben, musste Wagner es kennenlernen. Abitur vermasselt. Weg von zu Hause. Genf, Autos überführt, als Bademeister gejobbt. Paris, Tagelöhner und Umzugshelfer, an manchen Tagen vier Filme gesehen. Gitanes, Espresso. Lektüre im Café de Flores und Les deux Magots, wo die Existenzialisten verkehrten. Und einmal, da trat der leibhaftige Jean-Paul Sartre an seinen Tisch, sagte so was wie: „Sie habe ich hier auch schon öfter gesehen.“ Und Wagner eröffnete ihm, wie sehr er ihn verehre, man plauderte etwas. Und dann, so würde ein kleiner Seppl sich diese Geschichte jetzt weiterspinnen, müsste Sartre gesagt haben: Ich möchte Sie fördern! Aber, ach, es blieb bei der flüchtigen Begegnung. Und Wagner befolgte den Rat befreundeter Journalisten: Mach ein Volontariat, irgendwo in Deutschland.

Bei der Nürnberger Zeitung waren sie froh, dass sie einen hatten, der die Veranstaltungstipps zusammenkleisterte, vier Zeilen pro Ereignis. „Findet statt“, „Lädt ein“, „Heute gibt es“. Wechsel zur Münchener Bild. Von dort zu Jasmin, der Zeitschrift für das Leben zu zweit, wo Wagner rasch ein kleiner Starreporter wurde. Günter Prinz, der Chefredakteur, hatte die Zeitschrift gerade verlassen und war zu Bild gewechselt, das war 1971. „Die Texte in der Bild waren miserabel“, sagt Prinz. Da fiel ihm dieser Wagner auf, der neuerdings in Jasmin schrieb. „Andere referierten. Wagner schaute sich die Menschen an mit den Augen des Lesers.“ Prinz holte ihn nach Hamburg, lehrte ihn Zeilen machen und Geschichten finden. Und Wagner wurde ein etwas größerer Starreporter.

In seinem Porsche Cabrio rauschte er am Verlag vor, wehend das Haar. Ein Volontär von 21 Jahren war damals sehr beeindruckt, bewunderte ihn aus der Ferne. Man erzählte sich, der Wagner habe eine Zeit lang im Wald gelebt, um für seinen Roman „Wolfsspur“ zu recherchieren. Was für ein Kerl! (Was der Volontär nicht wusste: Wagner wollte einen ganzen Monat dort hausen, in einem Zelt im Taunus. Doch kalt war’s, feucht, voller Käfer, er fand nicht die rechte Muße zum Schreiben. Nach einer Woche kehrte er zurück in die Zivilisation.) Dass er dem großen Reporter für eine Geschichte zuliefern durfte, empfand der Volontär als Ritterschlag. Später, als Wagner die Bunte machte, holte er den jungen Mann nach München und machte ihn zum Chefreporter. Sein Name: Kai Diekmann.

Eines Nachts, es war kurz vor Weihnachten und wieder mal früh geworden bei der Bunten, bekam Wagner von Diekmann ein Manuskript in die Hand gedrückt, es war eine große Geschichte über die Tochter von Franz Schönhuber. Völlig übermüdet, öffnete er erst mal eine Fischdose, las die Geschichte, tropfte Öl aufs Papier und blökte nach abgeschlossener Lektüre: „Du bist der schlechteste Reporter, den ich je gesehen habe.“ Diekmann entgegnete etwas von am Arsch lecken und kündigte. Am nächsten Tag bestellte Wagner alle Redakteure ein und verkündete: Diekmann sei befördert, er werde künftig die gesamte aktuelle Strecke verantworten.

Nach Wagners Demission bei der B.Z. hatte der zum Bild-Chef aufgestiegene Diekmann eine Eingebung: Der Franz Josef könnte doch für ihn schreiben. Persönlich. Subjektiv. Wagner pur. Den kriegt er seit 2001, werktäglich, und bisweilen kommt es vor, dass die beiden sich über den Inhalt entzweien. Dann brüllt Wagner, das sei seine letzte Kolumne gewesen; tags darauf ist davon keine Rede mehr. Wagner selbst sagt, von fünf Kolumnen seien zwei okay, eine sehr gut, der Rest mittel. Diekmann sagt, selbst an nicht so guten Tagen sei die Post noch ein funkelnder Edelstein in seinem Blatt. Wagner sagt, nicht mehr gedruckt zu werden wäre für ihn eine Horrorvorstellung. Diekmann sagt, solange der Franz Josef den Stift halten könne, müsse er für ihn diese Kolumne schreiben. Diekmann, so muss man sich das ungefähr vorstellen, spricht von Wagner so ehrfurchtsvoll wie sonst nur von Helmut Kohl: Wagner, sagt Diekmann, habe ihm vorgemacht, dass man als Journalist immer nach den Sternen greifen muss. Und so ist der verträumte Seppl noch selbst zum Helden geworden.

ALEXANDER KÜHN, geboren 1975, ist als Redakteur beim Stern vor allem zuständig für Medienthemen. Sein Volontariat absolvierte er bei der taz. Das Porträt ist ein Vorabdruck aus dem von Stephan Weichert und Christian Zabel herausgegebenen Buch „Die Alpha-Journalisten. Deutschlands Wortführer im Porträt“, das Anfang Mai erscheint (Herbert von Halem Verlag, Köln, 416 Seiten, 23 Euro). Infos unter www.alpha-journalisten.de