„Klären, wer von den Aussagen gewusst hat“

Der Grünen-Abgeordnete Ströbele will den Umgang des Verfassungsschutzes mit RAF-Informationen vor den Geheimdienstausschuss bringen

HANS-CHRISTIAN STRÖBELE, 67, vertritt seit 1998 den Wahlkreis Berlin-Kreuzberg im Deutschen Bundestag. Er wurde 1975 als Wahlverteidiger Andreas Baaders vom Stuttgarter RAF-Prozess ausgeschlossen.

taz: Herr Ströbele, jetzt erst bekannt gewordene Erkenntnisse des Verfassungsschutzes werfen ein neues Licht auf Gerichtsurteile gegen frühere RAF-Terroristen. Müssen die Verfahren neu aufgerollt werden?

Hans-Christian Ströbele: Zunächst einmal muss der Verfassungsschutz, es müssen aber auch Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft erklären, wann sie von welchen Aussagen wussten. Für wie seriös und zuverlässig haben sie diese Aussagen gehalten? Was haben sie damit in den Strafverfahren gemacht, die damals noch anstanden? Es sieht jetzt so aus, dass es zu mindestens einem Fehlurteil gekommen sein könnte – und zur selben Zeit könnten deutsche Sicherheitsbehörden von einer Aussage gewusst haben, wonach ein ganz anderer der Täter gewesen sein soll. Das wäre unverantwortlich.

Welches Fehlurteil meinen Sie?

Die Verurteilung von Herrn Folkerts wegen der Schüsse auf Generalbundesanwalt Buback käme in Betracht.

Welche Konsequenzen fordern Sie?

Ich werde beantragen, die neuen Erkenntnisse zur RAF im Parlamentarischen Kontrollgremium auf die Tagesordnung zu setzen. Wir müssen klären, wer damals von den brisanten Aussagen gewusst hat und was diese Personen mit den Informationen gemacht haben.

Und diese Personen müssten dann zurücktreten?

Viele der handelnden Personen sind vermutlich gar nicht mehr im Amt. Die Fakten können trotzdem vielfach von Bedeutung sein. Möglicherweise müssen die Richtlinien geändert werden, nach denen in solchen Fällen vorgegangen wird.

Gilt in Deutschland nicht das Prinzip der strikten Trennung von Verfassungsschutz und Polizei?

Das stimmt. Trotzdem hat der Verfassungsschutz die Möglichkeit und die Pflicht, den Strafverfolgungsbehörden einen Hinweis zu geben – und damit letztlich auch beim Gericht Zweifel zu wecken, ob der Tathergang wirklich so gewesen ist wie angenommen.

Aus welchem Grund ist das nach Ihrer Ansicht unterblieben?

Offenbar wollte man die Zeugin schützen. Im Laufe der Jahrzehnte soll es dann aber zusätzliche Aussagen gegeben haben, zum Beispiel von Silke Meier-Witt, dass sie Knut Folkerts am Tag des Karlsruher Buback-Attentats in Holland getroffen hat. Spätestens jetzt hätte die Bundesanwaltschaft fragen müssen: Wurde nicht jemand verurteilt, der die Tat gar nicht begangen hat?

Nochmals gefragt: Welche Strafverfahren müssten nach Ihrer Ansicht neu aufgerollt werden, wenn die Informationen stimmen?

Das kann man ohne Kenntnis der Urteile, der Akten und der Gesamtbeweislage nicht seriös beurteilen. Nicht jede Aussage führt gleich zu einem Revirement aller betroffenen Gerichtsverfahren.

Aber wenn zum Beispiel Stefan Wisniewski tatsächlich die Schüsse auf Buback abgegeben hat, müsste er dann wegen Mordes erneut vor Gericht?

Es gilt in Deutschland das Legalitätsprinzip. Demnach ist die Staatsanwaltschaft dazu verpflichtet, Strafverfahren aufzuklären und auch Anklage zu erheben, wenn es zu einem hinreichenden Tatverdacht kommt. Ob das hier der Fall ist, das vermag ich nicht zu beurteilen.

Muss auch das Verfahren gegen Klar wieder aufgenommen werden?

Ich habe an dem Verfahren damals nicht teilgenommen. Ich kenne die Urteilsgründe nicht. Aber natürlich muss man fragen: Wäre das Urteil zu diesem Tatkomplex anders ausgefallen, wenn das Gericht von den jetzt bekannt gewordenen Aussagen gewusst hätte?

Klar wurde im Fall Buback als Mittäter verurteilt. Ob er selbst geschossen hat, spielt doch dabei keine Rolle?

Für die Frage der Mittäterschaft kann durchaus eine Rolle spielen, dass er als Schütze nicht in Betracht kommt. Im Übrigen geht es ja gerade um die Frage, ob er dabei war. Wir wissen nicht, ob es Beweise gibt, dass er am Steuer des Fluchtwagens saß. Das zeigt, wie problematisch die juristische Konstruktion in vielen RAF-Verfahren war – zu sagen, die drei waren es, auch wenn man die einzelnen Tatbeiträge gar nicht zuordnen kann.

Warum haben die ehemaligen RAF-Mitglieder selbst so lange geschwiegen – auch wenn sie wegen Taten verurteilt wurden, die sie möglicherweise gar nicht begangen haben?

Das ist eine berechtigte Frage, die ich als ehemaliger Verteidiger allerdings nicht beantworten darf und will. Das müssen Sie die Leute selber fragen. Sie hatten den Grundsatz, sich vor Gericht in keiner Weise zur Sache einzulassen.

Der frühere RAF-Terrorist Peter-Jürgen Boock hat in einem Interview gesagt, seine früheren Gefährten verhielten sich mit ihrem eisigen Schweigen genauso wie die Kriegsgeneration. Wäre es nicht angezeigt, dass die Täter endlich reden?

Wenn ich das Boock-Zitat richtig gelesen habe, bezieht es sich auf die politisch-moralische Auseinandersetzung mit der RAF insgesamt – nicht auf das Verhalten in den Strafprozessen.

Nicht in den Prozessen, aber auf das Verhalten der Täter schon.

Es gibt ja welche, die sich geäußert haben und sich immer wieder äußern. Ich halte eine sachliche Auseinandersetzung über diesen Teil der deutschen Geschichte für dringend erforderlich. Schon weil es das berechtigte Interesse der jüngeren Generation gibt, etwas über die Hintergründe zu erfahren. Ich fürchte aber, dass die Zeit noch nicht reif ist. INTERVIEW: RALPH BOLLMANN