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Archiv-Artikel

Gezielte Vernichtung

HUNGER Eine Ausstellung in Bremen zeigt, wie die Nazis sowjetische Kriegsgefangene verhungern ließen

„Unglaublich“, immer wieder „unglaublich“. Eigentlich könnte die Frau es besser wissen, sie ist ein Kind der Nachkriegszeit. Aber von dem, was sie da in der Ausstellung im Haus der Wissenschaft sieht, haben ihre Eltern ihr nichts erzählt. Obwohl es direkt vor ihren Augen passierte. Nun sieht die Tochter Fotos von Überlebenden, Karteikarten sowjetischer Kriegsgefangener und erfährt Ausschnitte ihrer Geschichte.

In den knapp vier Jahren zwischen dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 und dem Kriegsende gerieten etwa 5,7 Millionen Rotarmisten in deutsche Hand. Im Januar 1945 zählte man in deutschen Lagern noch 930.000. Und die anderen? Mehr als die Hälfte, schätzungsweise 3,3 Millionen, waren umgekommen.

Dieses Sterben war gezielte Vernichtung. Als der Generalquartiermeister der Wehrmacht, General Eduard Wagner, darauf angesprochen wurde, dass die Armeen die sowjetischen Gefangenen als Arbeitskräfte brauchten, diese aber in den Lagern verhungerten, stellte er lapidar fest: „Nichtarbeitende Kriegsgefangene in den Gefangenenlagern haben zu verhungern.“ Hitler wollte den „Lebensraum im Osten“ entvölkert für die „rücksichtslose Germanisierung“. Die ersten Vergasungsopfer in Auschwitz sind übrigens sowjetische Kriegsgefangene gewesen.

Die sowjetischen Kriegsgefangenen verhungerten aber nicht nur in den fernen Lagern auf russischem Boden, sondern auch mitten in den deutschen Großstädten. In Bremen gab es rund 30 „Russenlager“. Beinahe alle großen Bremer Firmen hatten ihre „Russen“: Borgward, Focke-Wulf, die Brauerei Beck, die Werften AG Weser und der Bremer Vulkan, die Reichsbahn oder auch der Bausenator. Die Gefangenen wurden auf dem städtischen Müllabladeplatz und in privaten Gärten eingesetzt. Große Lager wurden in weniger bewohnten Bereichen der Stadt eingerichtet, kleinere auch mittendrin, etwa im Stallgebäude einer Reithalle an der heutigen Straße Fedelhören.

Konzipiert hat die Ausstellung der Berliner Verein für Kontakte zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion, „Kontakte-Kontakty e.V.“, ein Bremer Freundeskreis hat die Informationen über die Situation in Bremen beigefügt. Aber die Arbeit geht auch in die Gegenwart hinein:

Der Verein versucht, Kontakt zu überlebenden Kriegsgefangenen herzustellen, und hat ihnen mit Portraitfotos ein Gesicht gegeben. Auf der Internetseite www.kontakte-kontakty.de sind zudem Briefdokumente veröffentlicht. Da schreibt zum Beispiel Tigran Spetanjan: „Ich will und kann darüber nicht schreiben, weil ich dann das Gefühl habe, wieder geschlagen, entwürdigt zu werden, wieder dem Tod in die Augen zu sehen.“ Oder der 90-jährige Aleksej Sidoriwitsch Sokolow: „Sie können sich nicht vorstellen, wie schön es in meinem fortgeschrittenen Alter ist, wenn man das Gefühl hat, nicht vergessen zu sein. Hier in der Heimat denken sie nicht immer an uns.“

2014 hat Kontakte-Kontakty erneut eine Initiative zur „Anerkennung des von sowjetischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg in deutscher Kriegsgefangenenschaft erlittenen großen Unrechts“ initiiert – erfolglos.  KLAUS WOLSCHNER

„,Russenlager‘ und Zwangsarbeit – Bilder und Erinnerungen sowjetischer Kriegsgefangener“: bis zum 30. 10. 14, Haus der Wissenschaft, Sandstraße 2, Bremen.

Am 30 September spricht in der Landeszentrale für politische Bildung, Osterdeich 6, Bremen, die Historikerin Dr. Ramona Saavedra Santis über „Soldatinnen der Roten Armee in deutscher Gefangenschaft“