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Archiv-Artikel

Dekolonisierung des Denkens

PATERNALISMUS Hamburgs Städtepartnerschaft mit Dar es Salaam schreibt koloniale Strukturen fort. Ein Gastbeitrag

Kurt Hirschler

■ 47, Politikwissenschaftler aus Hamburg, arbeitet seit 1995 zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Tansania. Er lebt und arbeitet etwa drei Monate im Jahr in Tansania, vorwiegend in Dar es Salaam, und führt Seminare über und Bildungsreisen nach Tansania durch. Er berät Schulen, Kirchengemeinden und andere bei ihren Kooperationsbeziehungen zu PartnerInnen in Tanssania. Außerdem arbeitet er im Arbeitskreis Hamburg postkolonial mit.

VON KURT HIRSCHLER

Der Senat will Hamburgs koloniales Erbe aufarbeiten. Das ist überraschend, überfällig – und gut. Weniger gut ist, dass das vom Senat vorgelegte Konzept von Behörden entwickelt und geschrieben wurde und nicht von Fachleuten. Fatal ist vor allem, dass die Organisationen, die jahrelang und teilweise gegen Anfeindungen kompetent für solch ein Konzept gestritten haben, bei dessen Entwicklung ignoriert wurden: die postkolonialen und schwarzen Initiativen. Deren Expertise fehlt dem Konzept.

Hamburgs „umfassendes Konzept“ greift aber auch zu kurz, weil es sich auf die sichtbaren Spuren der Kolonialzeit beschränkt. Nach gängigem Verständnis begann der „deutsche Kolonialismus“ 1884 mit den ersten „Schutzverträgen“ und endete mit dem Ersten Weltkrieg 1918. Den Denkerinnen und Denkern der Postcolonial Studies verdanken wir die Erkenntnis, dass unter Kolonialismus weniger eine zeitliche Epoche zu verstehen ist als vielmehr ein komplexes Phänomen, das bis heute andauert.

Um den Begriff des Postkolonialismus besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich den vertrauteren Begriff der Nachkriegszeit zu vergegenwärtigen: Damit ist die Zeit gemeint, in der die Kampfhandlungen des Krieges zwar vorbei sind, aber das gesamte Leben vom Krieg und seinen Folgen geprägt ist: Infrastruktur und Wirtschaft sind zerstört, ebenso die politische und soziale Ordnung. Der Krieg und die Bewältigung seiner Folgen prägen das Denken und Fühlen der Menschen. In den Straßen die Trümmer, die Verwundeten und Verstümmelten. Der Krieg ist vorbei – und dennoch allgegenwärtig und jede Facette des Lebens prägend.

Die Theoretikerinnen und Theoretiker des Postkolonialismus haben uns darauf aufmerksam gemacht, dass die direkte Kolonialherrschaft zwar vorbei ist, der Kolonialismus aber noch immer ein prägendes Strukturmerkmal ist. Dies gilt nicht nur für die Staaten, Gesellschaften, Ökonomien und Kulturen der ehemals kolonisierten Gebiete, sondern auch für die der ehemals Kolonisierenden.

Neben wirtschaftlichen und politischen Motiven stellen postkoloniale Analysen zudem ein weiteres Motiv für die Kolonisierung ins Zentrum: die legitimierende Ideologie des Zivilisierungsauftrags. Aufgrund des postulierten eigenen hohen zivilisatorischen Entwicklungsstandes und der angenommenen Rückständigkeit des Südens habe der zivilisierte Norden Auftrag und moralische Verpflichtung, „Zivilisation“ zu den vermeintlich „Unzivilisierten“ Afrikas zu tragen.

Das koloniale Denken prägt bis heute in Deutschland die Wahrnehmung der und die Beziehungen zu den ehemals kolonisierten Gebieten; es prägt die Begriffe, mit denen über die anderen gesprochen wird. Es prägt die Darstellung des globalen Südens in den Medien, Schulbüchern und Reiseberichten von Freiwilligen; es prägt die Vorstellung vom Gegensatz zwischen den „entwickelten Kulturvölkern“ im Norden mit all ihren Errungenschaften und den „unterentwickelten Naturvölkern“ im Süden mit all ihren Defiziten – abgesehen davon, dass sie in ihrer Armut fröhlich sind und gut tanzen können. Und es prägt die Vorstellung vom zwangsläufig hierarchischen Verhältnis zwischen denen, die angeblich haben, können und wissen, und jenen, die dieser Sichtweise zufolge nicht haben, nicht können und nicht wissen.

Die Städtepartnerschaft zwischen Hamburg und der tansanischen Hafenstadt Dar es Salaam böte die Chance, dieses koloniale Erbe im Denken zu thematisieren und zu überwinden. Doch leider trägt diese sogenannte „Partnerschaft“ eher dazu bei, koloniale Klischees und Verhältnisse zu verfestigen. Die Rollen sind fest verteilt: Hamburg hilft, Hamburg unterstützt, Hamburg baut auf, spendet, schult, berät, bildet aus und so weiter. Hamburg hat, Hamburg kann, Hamburg weiß.

Und Dar es Salaam? Bleibt die Rolle des Hilfsempfängers, dankbar und exotisch, stets fröhlich lachend und tanzend.

Statt wie in der Kolonialzeit „Zivilisation“ aus dem „zivilisierten Europa“ zu den „Unzivilisierten“ Afrikas zu tragen, trägt die sogenannte Städtepartnerschaft nun „Entwicklung“ aus dem „entwickelten Hamburg“ zu den „Unterentwickelten“ in Dar es Salaam. Die komplexen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse Dar es Salaams werden in Hamburg ausgeblendet, einheimische Strukturen und Verfahren nicht zur Kenntnis genommen.

Die Reduzierung auf Hilfsbedürftigkeit, also Unfähigkeit, Dankbarkeit und Exotik knüpft direkt an die koloniale Konstruktion Afrikas an. Sie konstruiert im Gegenbild dazu eine Überlegenheit Hamburgs und definiert die „Partnerschaft“ als eine hierarchische Beziehung, aus der sich erneut ein Zivilisierungsauftrag ableitet. Heute spricht man jedoch nicht mehr von Zivilisierung, sondern von Entwicklung. Als Kronzeugen werden Menschen aus Dar es Salaam aufgeführt, die von den Projekten profitieren; kritische Stimmen werden ausgeblendet.

An vielen Beispielen ließe sich erläutern, wie sich das koloniale Erbe in den Köpfen in der Städtepartnerschaft niederschlägt und sie prägt. Mittlerweile hat auf vielen Ebenen – von der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit bis zu kirchlichen Projekten – die Erkenntnis Einzug gehalten, dass eine rassismuskritische Analyse der eigenen Ansätze dringend notwendig ist. In Hamburgs Städtepartnerschaftsszene sind solche Debatten aber nicht erwünscht.

Im Senatskonzept sollen WissenschaftlerInnen aus Dar es Salaam zwar eingeladen werden, Hamburgs Kolonialgeschichte aufzuarbeiten – doch die dringend notwendige Aufarbeitung des kolonialen Erbes in den Köpfen, in den Grundannahmen der Beziehung zu Dar es Salaam und in den konkreten Projekten ist nicht gewollt. Stattdessen feiert sich Hamburg nun unkritisch in einer selbstgefälligen „Woche der Partnerschaft“. Dabei wäre eine Dekolonisierung der Städtepartnerschaft nicht nur zeitgemäß und dringend geboten. Zweifellos wäre sie auch ein Gewinn für die Beziehung zu Dar es Salaam, und ein deutliches Zeichen dafür, dass der Senat es ernst meint mit der Aufarbeitung des kolonialen Erbes.