Zeichen der Zeit

Besuch bei einer Tätowiererin

VON GABRIELE GOETTLE

„Seine Hände sind mit blauen Flecken bemerkt; um die Finger der linken Hand gehen sie in Ringen herum.“ Lichtenberg (1775 in London, nach der Begegnung mit OMOI, dem tätowierten „edlenWilden“ aus der Südsee)

Die Tätowierung, einst Stammeszeichen, dann Kennzeichnung und Hautverzierung der Außenseiter – kohärent, stigmatisierend, bizarr bis ordinär –, ist zur Normalität geworden, zu einem alltäglichen Anblick. Als Accessoir beider Geschlechter ist sie so gut wie gesellschaftsfähig. Sie erfüllt offenbar den Wunsch nach Selbstvergewisserung und nach einer über die allgemein kurze Verfallsdauer der Warenwelt hinausreichende Verbindlichkeit. Inzwischen haben fast 50 Prozent der Jugendlichen bis zum Alter von 24 Jahren Piercings oder Tätowierungen.

Das Tätowierstudio von Berit Uhlhorn liegt in der Potsdamer Straße. Die „Potse“ war bis zur Wende berüchtigter Berliner Straßenstrich und Rotlichtmeile. Heute findet man hier vor allem Im- und Exportgeschäfte, kleine Spielhöllen, Woolworth, türkische Döner- und Gemüseläden, Verlage und Antiquariate. Das Haus Nr. 93 ist sorgfältig restauriert, das Vorderhaus und die beiden Seitenflügel gehören Berits Mann, er ist Architekt. Die Schaufenster des Studios sind von Efeu umrankt und diskret dekoriert mit den Mustern des Angebotes.

Über der fliederfarbenen Ladentür steht „Tatau Abscur“. Dahinter befindet sich kein düsterer, zwielichtiger Ort, sondern ein zweistöckiger Raum im 60er-Jahre-Stil, der geradezu erschreckend hell und gediegen ist. Über der kleinen Bar prangt ein Lenin-Bild, hier kann der Kunde bei einem Espresso am Caféhaustisch sitzen und in Tätowiermagazinen blättern. An den Wänden hängen Zeichnungen der Virchow’schen Präparatesammlung. Man glaubt sich eher in einer Galerie zu befinden. Aber oben auf der geschwungenen Empore, den Blicken entzogen, da surren die Tätowiermaschinchen, da sausen die Nadeln ins Fleisch, entstehen die Bilder auf der Haut. Und vielleicht wird eine junge Frau, die morgens noch mit einem unversehrten Schulterblatt aufgewacht ist, abends ins Bet gehen mit einer frischen Wunde in Form einer prachtvollen Lilie.

Berit ist, wie sie sagt, eine leidenschaftliche Gärtnerin. Sie zeigt uns ihren kleinen Garten im Hinterhof, eine stille Oase, abseits der dröhnenden Straße, umgeben von gelben Backsteinmauern und freistehenden viereckigen Backsteinsäulen in gleicher Art und Farbe. Es wirkt fast klösterlich-südländisch. Dann steigen wir hinauf in den fünften Stock und werden ins Arbeitszimmer gebeten. Wenn man von den zwei Schreibtischen und Laptops absieht, von den Regalen voller Kunstbände, dann hat der hohe helle Raum etwas von jenen Wunderkammern voller „Raritäten“ aus „der Zeit des Staunens“, denen die Aufklärung den Garaus gemacht hat.

Berits Wunderkammer ist angefüllt mit den Zeugnissen ihrer Sammelleidenschaft, mit ausgestopften Tieren, Präparaten in Spiritus, Knochen, Tierschädeln, der Moulage eines Frauengesichtes mit Lippenkrebs. Unsere Gastgeberin bringt Tee und selbst gemachten Kräuterquark zu den Croissants. Als sie uns Tee einschenkt, rutscht der Ärmel ihrer chinesischen Seidenjacke etwas nach oben und gibt den Blick frei auf ihren mit Blütenmotiven tätowierten linken Arm. Wir, gänzlich untätowiert, bitten sie, uns, die wir es eigentlich nicht verstehen, die Dinge zu erklären.

Sie trinkt einen Schluck Tee und sagt: „Tätowierungen sind die ersten aller Künste. Noch bevor die Menschen sich feste Behausungen gebaut haben, haben sie sich tätowiert, haben sie geritzt. Fast alle Funde mumifizierter Menschen, Moorleichen oder Eisleichen, haben Tätowierungen. Diese Tätowierungen aus der Frühzeit sind eng mit Schamanismus und auch mit Heilergebräuchen verbunden. Man schuf eine Art Gegenzauber, der sich auf dem Körper manifestiert und auch für andere sichtbar ist. Deshalb sind die Motive auch sehr zeichenhaft, haben Signetcharakter, sie sollen verständlich sein. Vielleicht stellen Tätowierungen auch zugleich eine Frühform der Akupunktur dar, vieles spricht dafür. Also das Tun und Forschen, das fiel da wahrscheinlich zusammen.

Mein Mann hat Rheuma, und eines Tages sagte Herbert Hoffmann [ein Tätowierer aus Hamburg, er gründete die „Älteste Tätowierstube Deutschlands“, Anm. G.G.]: ‚Ich weiß ein Mittel: Ganzkörpertätowierung!‘ Er ist über 90, glaube ich. Er sagte, in seiner langen Berufszeit wäre ihm kein einziger ganzkörpertätowierter Mensch begegnet, der Rheuma gehabt hätte. Und er hat sicher sehr viele gesehen und tätowiert. Eine Tätowierung ist ja quasi eine Presslufthammer-Akupunktur“, sie lacht. „Die Einstiche erfolgen mit ungeheurer Geschwindigkeit, deshalb tut es ja auch so weh. Eine Akupunkturnadel schmerzt nicht, aber diese ‚Presslufthammer-Akupunktur‘ aktiviert natürlich das Nervengeflecht – das ist schon ordentlich!

Es ist auf jeden Fall so, dass die Menschen sich immer tätowiert haben, und dieses historische Fenster, in dem sie es nicht getan haben, ist im Vergleich zu dem Rest der Zeit extrem klein. Und es gab natürlich auch über sehr lange Zeit die Praxis der Kennzeichnung von Sklaven und Gefangenen. Das ging bei uns bis 1875 oder so, in Russland bestimmt bis 1900, dass Gefangene rigoros entweder durch Brandmarkung, durch Verstümmelung oder durch Tätowierung markiert wurden. Danach wurde das nicht mehr gemacht – die Nazizeit war eigentlich noch ganz homogen in der alten Zeit drin.

Leute, die sich freiwillig tätowieren ließen, waren in der Regel Außenseiter, Seeleute, Zuhälter, Gefängnisinsassen. Das alles ist der Grund für das schlechte Image, das Tätowierungen bis vor kurzem immer noch hatten. Natürlich haben sich viele Leute auch heimlich tätowieren lassen, bis hinauf zum Adel, besonders in der Zeit, als die ersten Tätowierten aus der Südsee nach Europa kamen. Aber eigentlich war das Tätowieren immer verboten, jahrhundertelang, teils per Gesetz und immer auch moralisch. Dieses Verbot endete bei uns erst allmählich. In den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Damals waren es die Motorradrocker, die anfingen, sich zu tätowieren. In den 60er-Jahren gab’s dann auch diese Nasenstecker, die man aus Indien mitbrachte, und in den 70ern trug man in der Punkbewegung die Sicherheitsnadel in der Backe – also es war bereits so eine Art Piercing. Das war diese Zeit, in der sich sehr viel verändert hat, ich weiß auch noch, wie diese Zeit roch …“

„Nach Patchuli!“, rufen wir. Sie lächelt und fährt fort: „Aber was das Tätowieren betrifft, so war das immer noch ausgegrenzt. Bis in die 90er-Jahre war das Tätowierbusiness angedockt an die Rockerclubs – teilweise ist das heute noch so. In Australien zum Beispiel haben Tätowierer immer noch Schwierigkeiten, wenn sie ein Studio eröffnen wollen und nicht bereit sind, Schutzgeld zu zahlen an den örtlichen Rockerverein. Auch regional in Europa kommt so was noch vor. Und ab 1993 fing das dann an, dass junge Tätowierer dem nicht mehr folgen wollten. Die Tätowierer wurden selbstbewusster.

Das war genau die Zeit, wo ich auch angefangen habe, 1993. Wir kamen auch aus ganz anderen kulturellen Zusammenhängen. Das waren dann zum Beispiel Grafikstudenten, Graffiti-Künstler, Comiczeichner, die mussten ja auch irgendwohin. In Amerika gab’s das schon, Leute, die eine gute Grundausbildung hatten. Überhaupt war Amerika sehr befruchtend. Amerika hat bis in die polynesischen Inseln hinein Kontakte, weil sie dort militärische Stützpunkte haben, und einige Tätowierer brachten Mitte der 80er-Jahre die polynesischen Motive mit. Da ging es los, mit dieser ‚Tribal-Art‘. Es gibt einige bedeutende, große Namen.

Leo Zulueta ist der bedeutendste Vertreter dieser Richtung in Amerika. Oder es gibt Don Ed Hardy, der ist in den frühen 80er-Jahren nach Japan gereist und brachte von dort den japanischen Stil und diese Ästhetik in die Tätowierszene. Das alles kam dann auch zu uns. Vorher gab’s ja eigentlich nur: Herz, Kreuz, Anker bzw. all das, was sich so zwischen dem Meer und dem Militär abspielte; und natürlich Erotisches. Dazu kamen die Rocker-Insignien, und damit hört die Motivik eigentlich auf.

Und in den 90ern kamen dann eben diese neuen Motiviken, und die haben dem Ganzen einen unheimlichen Schub gegeben. Auch eine neue Größenordnung. Ab da wurden dann auch ganze Partien, ganze Körperteile, ganze Oberarme und Rücken tätowiert. Es ist ja so: Wenn eine Tätowierung gut platziert, sauber tätowiert und motivisch vollendet ist, dann macht sie den Träger unheimlich stolz und glücklich. Sie ist Teil des Körpers, vervollständigt ihn. Es gibt natürlich ganz viele stümperhafte Tätowierer, leider, aber wenn man das Glück hat, so eine vollendete Tätowierung auf dem Körper zu haben, dann erlebt man eine unheimliche Transformation und Erhebung, eine ‚Sublimierung‘ .

Was die Motivik selbst betrifft, so sind die Vorlieben für bestimmte Stilrichtungen natürlich ganz verschieden. Leute, die sich für japanische Sachen entscheiden, schätzen diese Tradition und Technik, die aus einer sehr hohen kulturellen Entwicklung stammt, das sind Leute, die klassische Schönheit möchten. Zeitloses. Gut, und dann gibt es diesen polynesischen Einfluss, diese schwarzen Bande- oder Flächenornamente. Die sind zwar in unserer Kultur bedeutungslos, wirken aber dekorativ und sind nicht so schwer herzustellen. Diese beiden Motiviken, wie gesagt, haben die Tätowierung ganz nach vorne geschoben. Plötzlich wollte alle Leute kleine Tribals haben. Na ja, und dann gibt es natürlich noch eine Fantasy-Motivik, die ‚Gruselecke‘, mit Monstern und Schädeln usw., die kommt noch sehr aus dem Rockergebaren. Es befruchtet sich natürlich auch alles gegenseitig, es gibt Gruselcomics, wo jedes Bild ein Gemetzel ist.

Also, der Totenkopf als Sinnbild, ist immer noch ein Motiv – den tragen wir ja alle in uns. Einen unheimlichen Schub gab auch der Schweizer Maler H. R. Giger, durch seine fantastischen Elemente zum einen, besonders aber durch das, was unter dem Begriff ‚Biomechanic‘ bekannt wurde. Das fing an mit Darstellungen von aufgerissener Haut, unter der dann ein Maschinenteil zu sehen war. Es gibt einen amerikanischen Vertreter dieser Richtung, Guy Atchinson, ein sehr guter Tätowierkünstler, der hat aus dieser ‚Biomechanic‘ noch mal eine ganz besondere, eigene Ornamentik gemacht. Und dann gibt es einen Schweizer Tätowierer, Valentin Steinmann, der hat daraus ‚Biodelice‘ entwickelt, er ist mehr so in die Renaissance-Ornamentik reingegangen und macht daraus eben auch ganz wunderbare Körperkonzepte. Dem Zauber dieser Motivik kann, sagen wir mal, der Buchhalter genauso erliegen wie der Polizist, der Bauarbeiter, der Gruftie oder der Architekt.

Aber es gibt auch rein dekorative Modeströmungen, beispielsweise den Delphin. Bei uns hieß der Delphin nur ‚blaue Banane‘. So zwischen 1993 und 1996 etwa, da wollten ihn die jungen Frauen plötzlich alle außen auf die Fesseln. Etwa fünf Zentimeter groß. Das war das Mode-Chichi der Esoterikszene. Die vergangenen zwei Jahre wurden wir gequält mit Sternen. Sterne in allen Varianten, hauptsächlich fünfzackige, manchmal als kleiner Schweif. Davor gab’s Sonnen um den Bauchnabel, auf die Schulterkugel, das Schulterblatt – beliebt bei beiden Geschlechtern, die Frauen waren leicht in der Überzahl. Na ja, es gibt ja die Koinzidenz der Ereignisse, plötzlich tun alle dasselbe. Keltische Knoten waren auch mal sehr populär. Ebenso diese Tätowierung auf den Steiß, in dieser quasi dreieckigen Form, umgangssprachlich heißt das ‚Arschgeweih‘ – ich hasse diesen Ausdruck – er ist diffamierend. Sie kann sehr, sehr gut aussehen, wenn sie perfekt gemacht ist.

Das ist übrigens ein reines Frauenzeichen. Generell aber unterscheiden sich Männer und Frauen gar nicht so sehr in der Wahl der Motivik, sehr jedoch in der Wahl der Platzierung. Das wird intuitiv richtig gemacht, Männer wollen den Schulterbereich betonen, Frauen Hüfte, Taille, Po. Dekolleté, Schulterkugel und Rücken usw., das wollen beide, sagen wir mal.“

Ein zartgliedrige Katze kommt herein, miaut, betrachtet uns distanziert und geht wieder hinaus. „Sie hat Junge“, sagt Berit. „Heute ist eigentlich alles möglich an Tätowierungen, und es wird auch alles gemacht. Jeder Tätowierer hat natürlich seine Präferenz und auch sein Talent in einer bestimmten Richtung. Einige sind sehr gut malerisch, die machen fotorealistische Porträts oder malerische Landschaftsszenen, ganz wunderbar. Andere sind grafisch sehr gut in strengen Ornamentformen, kunstvoll verschlungenen Knotenbändern. Oder jemand wie der Franzose Lionel Fahy aus Nantes, ein großartiger Künstler, macht Kritzel-Kinderzeichnungen. Das Publikum kennt sich eigentlich inzwischen sehr gut aus, es gibt Tätowiermagazine, die die einzelnen Künstler vorstellen. Das Publikum hat die Wahl, und die Leute sind wirklich sehr engagiert. Das geht so weit, dass ich Leute habe, die kommen aus Stuttgart, aus Karlsruhe, Hamburg, aus Wien oder auch Südafrika.

In meiner Internetpräsentation stelle ich ein kleines Spektrum meiner Arbeiten vor, das eine sind florale Sachen, das andere nenne ich mal ‚alles, was Augen hat‘. Also Menschen und Tiere, alles, was einen anguckt.“ Sie lacht. „Und dann gibt es noch den schwarzen Bereich, wo sowohl ornamentale als auch figürliche Sachen gezeigt werden. Manche Leute wollen explizit Blumen, und das freut mich, weil ich Blumen viel und gerne mache. Also das sind jetzt nicht unbedingt Sujets, die ich da trenne, diese Auswahl soll nur eine leichtere Orientierung ermöglichen. Jeder Kunde, der es wünscht, bekommt meine fachkundige Beratung.

Ich bin, glaube ich, dafür bekannt, dass ich viele Stile und Motiviken bedienen kann, dass ich mich darin zu Hause fühle. Ich bin da nicht so festgelegt. Was die Leute auch schätzen, ist, dass ich die Sachen sehr individuell für sie konzipiere und genau an ihre körperliche Konstitution anpasse. Die Bilder hängen nicht irgendwo, ich dynamisiere sie auf dem Körper und gebe dem Körper neuen Schwung. Es kommt natürlich auch vor, dass jemand eine ganz unpassende Vorstellung von Platzierung oder Motiv hat. Ich sage das natürlich. Aber die Leute sind erwachsen und die Herren und Herrinnen ihres freien Willens. Ich kann da nur beraten. Es kam mal eine kleine, blonde, zarte junge Frau und wollte unbedingt den ganzen Arm voll Totenköpfe. Die war zudem schwanger. Ich sagte, guck mal, das geht überhaupt nicht, erklärte ihr die Gründe, und konnte sie auch relativ schnell überzeugen. Aber es kommt nicht so oft vor.

Und ich tätowiere natürlich auch keine rechtslastigen Motive. Im Gegenteil, ich tätowiere sie über – es ist ja auch auch Teil unserer Arbeit, coverups anzufertigen. Wir hatten mal Kontakt zu Leuten, die sich um ganz junge Nazis gekümmert haben, die wollten den Jungs raushelfen und neue Tätowierungen geben, damit sie nicht mehr mit diesen SS-Runen usw. rumrennen. Daraus kann man ja alles Mögliche machen, da kann ich auch einen Löwen drübersetzen, und nichts mehr ist zu sehen. Aber eigentlich ist das Bewusstsein der Leute, die kommen, schon ziemlich geschult an den Bildern.

Wir dürfen ja nicht vergessen, seit ich tätowiere, sind fast 15 Jahre ins Land gegangen. In dieser Zeit hat sich unsere Gesellschaft total umgebaut. Wir sind jetzt eine Gesellschaft, die ist tätowiert. Die jungen Leute zwischen 18 und 35 sind tätowiert. So gut wie alle! Mit Ausnahme vielleicht von Internatsschülern aus Snobiety-Kreisen in der Schweiz, aber das sind heutzutage auch nicht mehr so die Grenzen. Die Akzeptanz ist unheimlich hoch dafür, besonders in Deutschland. Man findet hier schwer tätowierte Busfahrer und auch Bankangestellte, Versicherungskaufleute, denen man das gar nicht ansieht im Berufsleben. In Spanien und Frankreich ist es nicht so angesagt. Zu uns kommen so die 18-, 19-, 20-Jährigen, zum Teil kommen sie sogar schon mit 14, aber das lehne ich ab – auch unabhängig von der Gesetzeslage, die es mir verbietet. Die sind noch nicht ausgewachsen. Und Jungs, die tätowiere ich, auch wenn sie 18 sind, noch ungern, denn erst so mit 26, 28 kriegen sie ihre eigentliche Masse. Das ideale Alter ist eigentlich so um die 30.

Viele, die kommen, sind 35, 36, 38. Die haben lange überlegt, haben sich umgeschaut und sagen, sie wollen jetzt was Richtiges. Die lassen sich dann gleich die ganze Seite machen. Aber ich habe auch schon Greise tätowiert, so Mitte 70. Das war schon schwierig, weil die Haut problematisch ist, das Bindegewebe ist einfach anders bei einem alten Menschen. Ganz junge Leute sind auch nicht einfach zu tätowieren, das ist oft deshalb schwerer, weil das Bindegewebe so intakt, so fest ist. Und ganz mühsam wird es bei muskelbepackten Leuten.

Es kommen eigentlich alle Altersgruppen und das Interesse nimmt nicht ab, sondern zu. Das ist interessant. Die Leute, die heute 25 sind, leben ja schon ihre ganze Jugend hindurch mit dem Anblick von Tätowierungen, mit dem Bewusstsein, man kann sich tätowieren lassen, es gibt die und die Motive. Die schauen natürlich auch ganz anders auf Bilder. Die untersuchen die Welt auf tätowierbare Motive.“

Wir fragen, was der Grund sein könnte, wenn eine Gesellschaft wie unsere plötzlich anfängt, sich zu tätowieren. „Es gibt viele Gründe dafür, ja. Mhm … Also, wir haben ja dieses Paradox, einerseits werden wir dazu erzogen, Individuen zu sein, andererseits gehen wir auf in einer unglaublichen Massenkultur. Oder gehen auch unter darin. Um diesem Untergehen etwas entgegenzusetzen, um wirklich zu einem einzigartigen biografischen Wesen zu werden, lassen sich die Leute tätowieren. Daneben ist es natürlich Modeerscheinung, Gruppenzugehörigkeit usw. Bewusstsein des eigenen Körpers – die Aufmerksamkeit dem eigenen Körper gegenüber ist anders als bei den Nichttätowierten.

Früher hatte man andere Entwürfe, ja … die Leute haben sich in den 80er-Jahren noch politisch geäußert, waren engagiert, und darüber haben sie sich auch definiert. Und danach kam eine Phase der Orientierungslosigkeit. Und plötzlich kam ‚Spaß‘, dieses ‚Ich will Spaß!‘. Das Konsumieren wurde erst scherzhaft gefeiert und irgendwann wurde es ernst. Unsere Identität, unser ganzer Lebensinhalt heute ist Konsum. Auch unser Körper ist ein Konsumartikel geworden. Und natürlich auch die Tätowierung. Junge Mode kann man nicht mit Untätowierten verkaufen. Die Tatoos sind sogar auf die Kleidung übergegangen, auf T-Shirts, Taschen, Hosen. Grade die Tribals, die gibt’s auf dem Plattencover und überall. Die Firma Kahla aus Ostdeutschland hatte eine Tribal-Serie auf Tassen, die haben sogar gepiercte Becher rausgebracht!

Was nun meine Arbeit als Tätowiererin betrifft, so stemme ich mich dem natürlich entgegen. Ich arbeite zum Beispiel nicht nach Katalog. Nie! Ich erstelle immer für jede einzelne Person einen eigenen, ganz individuellen Entwurf. Und damit bin ich schon ziemlich weit weg von der Kommerzialisierung und von einem Massenprodukt. Ich mache die verschiedensten Sachen. Und ich mache, wie gesagt, sehr viele Blumenmotive, schon aus Passion. Natürlich, wenn es irgendwo einen Roten Stern einzuarbeiten gibt … Man muss ja wissen, wo man zu Hause ist. Ich würde gerne ab und zu auch mal deutlich politischere Motive tätowieren. Mich interessieren Sachen von Heartfield zum Beispiel und die Grafik der sowjetischen Plakate oder auch gotische Pietàs. Auch aus Protest gegen diese kapitalistische Zwangsverdummung. Am liebsten hätte ich selbst eine Handgranate in die Handinnenfläche tätowiert. Das käme diesem Bedürfnis nahe.

Traditionelle Motive wie Tribals mache ich nie, oder ich bau sie total um, ich dynamisiere sie, schattiere sie, arbeite mit Auslassungen, da kommt dann halt mein künstlerischer Teil zum Vorschein. Ich persönlich arbeite ja direkt auf die Haut, nur bei ganz bestimmten Sachen, bei lebensechten Porträts, komplizierten Feinstrukturen, spiegelsymmetrischen Ornamenten, da mache ich eine Blaupause. Um größere Flächen am Körper zu beherrschen und anzulegen, da braucht man große Souveränität und viel Erfahrung und Können. Aber die Welt verändere ich natürlich damit nicht. Was ich verändere, ist das Bewusstsein des Individuums für sich selbst. Also, die Leute, die bei mir rausgehen, die fühlen das … Es war Michelangelo, glaube ich, der gesagt hat, die Figur ist schon in diesem Stein drin. Ich hab sie nicht erschaffen, ich hab bloß alles weggekratzt, um sie sichtbar zu machen. Und so ähnlich mache ich das auch.

Also ich betrachte mich schon als Künstlerin. Eine gute Tätowierung ist ein Kunstwerk! Das ist die Krux unseres Berufsstandes, dass wir keine Künstler sind vor dem Recht, denn das Recht sagt, der Körper kann kein Kunstwerk sein. [Dass Tätowierungen aus sozialrechtlicher Sicht keine Kunstwerke sind, hat das Bundessozialgericht Ende März 2007 befunden, es entschied, dass Tätowierer den Kunsthandwerkern zuzuordnen sind und damit keinen Zugang zur Künstlersozialkasse haben. Anm. G.G.] Und ich betrachte mich auch als Kulturarbeiterin, ich beschäftige mich nicht nur mit Malerei und Grafik, ich stelle auch ein Kulturgut her mit meiner Kunst.

Tätowieren ist natürlich auch ein Handwerk. Dieses Bild überhaupt zu produzieren, es subtil auszuarbeiten, die Farbverläufe so anzulegen, dass sie homogen und gleich mäßig wirken, das alles ist schwierig und mit viel langsamer Schwerarbeit verbunden. Es ist körperlich eine große Anstrengung. Beim Tätowieren habe ich meistens eine ganz furchtbare Körperhaltung. Also, ich sitze vor dem Menschen und muss ganz schön viel Druck auf ihn ausüben, sonst kann ich den Körper nicht dirigieren und auch die Haut nicht spannen. Der Kunde sitzt nach Möglichkeit. Ich arbeite nicht gern auf der Liege, das ist für mich eine Qual, weil ich ein Bandscheibenproblem habe. Manchmal aber bin ich so im Wahn, dass ich keine Pause machen will. Das muss ich mir abgewöhnen. So eine Sitzung, das sind vier Stunden, und wenn es kompliziert ist, kann man in der Zeit etwa die Größe einer Handfläche schaffen.“

Auf die Frage, was eine Arbeit in dieser Größe kostet, sagt sie: „Je nach Aufwand und Farbigkeit, sagen wir mal 300 bis 800 Euro. Jedes Gemälde ist wesentlich teurer. Also vier Stunden konzentrierte Arbeit, das ist lang. Die Vibrationen gehen natürlich auch auf die Hände, die Maschine ist ja so ein Hammer. Ich muss das alles freihändig machen. Beim Schattieren, wenn ich mit der einen Hand die Haut spanne und mit der anderen die Maschine führe, dann kann ich mich so ein bisschen auf mir selber abstützen. Die Maschine hat einen so starken Ausschlag, dass die Vibrationen direkt in die Arme gehen und in die Gelenke. [Die Nadeln dringen etwa 0,5 bis 1,5 mm tief in die Haut, in die unter der Epidermis liegende Lederhaut ein. Tiefer dürfen sie nicht stechen. Diese Präzision verdankt sich der Tätowiermaschine. Die erste wurde 1891 unter dem Namen „Tattaugraph“ patentiert. Anm. G.G.] Und wie ich anfangs schon gesagt habe, wegen dieser ungeheuren Geschwindigkeit, mit der sich die Nadeln bewegen, tut es dem, der tätowiert wird, ja auch so weh. Die Schmerzen empfindet jeder ganz verschieden. Es gibt den brennenden Schmerz, aber auch den stechenden Schmerz.

Einmal hatte ich einen jungen Mann, der wollte unbedingt die Eichel tätowiert haben. Ich habe eine einfache schwarze Spirale vorgeschlagen – ich kann ja da nicht ein Marienporträt draufmachen. So eine Spirale, die das Geschlecht irgendwie magisch auflädt, ist doch sehr elegant, zeitlos. Und was die Schmerzen angeht, wenn der das will, dann muss er sie aushalten. Es hat gut geklappt, er hat nicht piep und nicht papp gesagt. Das Niedliche war, als es gerade fertig war, kriegte er einen Harten. Er guckte seinen Schwanz völlig verliebt an und sein Schwanz guckte ihn an. Ich hätte ein Gesicht drauf machen sollen!“

Und nun möchten wir noch hören, was sie denn ursprünglich mal werden wollte. „Also, in der Kindheit, mit sechs Jahren schon, da wollte ich unbedingt Schriftstellerin werden, später dann Bildhauerin. Mein Vater war Schweißer, meine Mutter Näherin. Beide waren begabte Menschen. Meine Mutter hat alles selbst genäht für meine Brüder und mich, alle meine Kleider, und das hat mich natürlich modisch sehr geprägt. Mein Vater hat nichts Kreatives gemacht, wenn er aber gekonnt hätte, wäre das sehr gut geworden. Die kleinen Sachen – er hat für uns Kinderspielzeug aus Holz gebaut –, die waren immer wunderbar. Und dann hab ich noch einen großen Schatz behalten, und zwar die von ihm bemalten Ostereier. Er hat sie mit ganz einfachen Blüten bemalt, aber wie er die angeordnet hat, wie er die Farben kombiniert hat, das ist sehr künstlerisch, ganz toll! Ich werde jetzt 42, aber ich hebe sie immer noch auf, diese Ostereier.

Meine Eltern sind beide schon tot. Ich hatte sehr alte Eltern und habe insofern auch noch mal ganz andere Dinge mitbekommen. Meine Mutter war Jahrgang 29. Sie haben mich sehr gefördert. Ich ging in Bremen auf die großartige Fachoberschule für Gestaltung und habe da Abitur gemacht. Die Schule war super. 1990 bin ich nach Berlin gegangen und lebte mit einigen Freunden in einer Ateliergemeinschaft. Ich habe damals schon Papier und Stoff mit Wachs, mit Farben, Acrylbeimischungen auf eine Weise bearbeitet, dass es aussah wie Haut; ich habe auch damals schon versucht, darin Bilder abzudrucken, also quasi diese ‚Häute‘ zu tätowieren. Das war der eine Weg hierher. Der andere hat sich dadurch eröffnet, das ich einen Tätowierer kennenlernte in der Aktzeichenklasse der Volkshochschule. Mit dem habe ich ein Abkommen getroffen: Er bringt mir das Tätowieren bei, ich bringe ihm das Zeichnen bei. Und eines Tages habe ich mich mit diesem Tätowierfreund auf sein Zimmer begeben, wir haben das Gerät zusammengesetzt und dann sollte ich ihm einen kleinen Schriftzug tätowieren. Also der erste Stich war HAHHHH! …“