Verfassungskrise in Lettland

Nach einem Veto von Staatspräsidentin Freiberga gegen das Sicherheitsgesetz soll jetzt das Volk in einem Referendum entscheiden. Neuwahlen nicht ausgeschlossen

STOCKHOLM taz ■ Dass Lettland seit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1991 ein Korruptionsproblem hat, ist kein Geheimnis. Doch ein Vertrag, den dieser Tage das Fernsehen in einer politischen Magazinsendung präsentierte, schlug dann doch ein wie eine Bombe. So sollen sich Politiker und Wirtschaftsbosse vor einigen Jahren über Einzelheiten der Regierungsbildung abgesprochen, sich über die Kontrolle der Medien, die Privatisierung von Unternehmen und gegenseitige finanzielle Wohltaten verständigt haben.

Das Dokument scheint nachträglich den Sinn des Parforceritts zu bestätigen, den Staatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga in den letzten Monaten hingelegt und mit dem sie dem Land gleichzeitig seine bisher schwerste Verfassungskrise beschert hat. Sie hatte sich zweimal geweigert, ein Gesetz zu unterschreiben, mit dem die Regierung unter Aigars Kalvitis die Kontrolle über den nationalen Sicherheitsrat, der die Sicherheitsorgane kontrolliert, neu regeln sollte. Diese Funktion dem Parlament anstelle eines kleinen Kreises von Beamten zu übertragen, hört sich nach einem Mehr an demokratischer Kontrolle an. Doch die Staatschefin sah das anders: Mehr Macht für die Regierung und das Parlament bedeute angesichts der politischen Situation Lettlands einen „Einfluss oligarchischer Interessen“ auf die Sicherheit des Landes.

Mit diesen „oligarchischen Interessen“ gemeint war vor allem einer: der umstrittene Politiker und Geschäftsmann Aivars Lembergs, zentrale Figur im Handel mit russischem Erdöl. Lembergs sitzt seit Mitte März dieses Jahres wegen Korruptionsvorwürfen in Untersuchungshaft. Der Prozess gegen ihn soll demnächst beginnen.

Medien wollen wissen, dass gleich mehrere Parteien und Dutzende Parlamentsabgeordnete finanziell von ihm abhängig sind. Die Präsidentin sieht das ähnlich, und die neuen Enthüllungen über Korruptionsverträge scheinen sie zu bestätigen. Und weil die Präsidentin neben der Regierung auch der Justiz nicht traut – die sie zuletzt in einer Brandrede im Januar als ineffektiv und alles andere als unabhängig verurteilte –, sah sie sich offenbar mehr und mehr in der Rolle einer alleinigen Garantin der lettischen Demokratie.

Vike-Freibergas zweimalige Weigerung, Änderungen des Sicherheitsgesetzes zu unterschreiben, die ihrer Meinung nach dazu führen könnten, dass Korruption straffrei bleiben und Nato-Geheimnisse in Moskau landen würden, ließ eine Verfassungsvorschrift über die Abhaltung einer Volksabstimmung zu dieser Frage greifen. 10 Prozent der Wahlberechtigten oder 140.000 Unterschriften binnen einem Monat wären für ein Referendum über das kontroverse Gesetz erforderlich gewesen. Als die Wahlkommission Ende vergangener Woche zusammenzählte, waren es sogar 210.000 Unterschriften geworden.

Zumindest was dieses Gesetz angeht, haben die LettInnen ihrem Parlament die gelbe Karte gezeigt. Ob eine rote daraus wird und es zudem Neuwahlen geben könnte, werden nun die durch die Wähler befürwortete Volksabstimmung und ein neuer Präsident entscheiden. Vike-Freibergas Amtszeit endet im Juni. Weit und breit ist keine ähnlich streitbare Kandidatin oder ein Kandidat wie die jetzige Amtsinhaberin in Sicht. Sie hatte fast zwei Dutzend Gesetze gestoppt.

REINHARD WOLFF