Am Patriotismus zugrunde gegangen

POSTKOLONIAL Najem Walis großer Roman „Engel des Südens“ erzählt von der Verfolgung der Minderheiten des Iraks

VON ANDREAS FANIZADEH

Najem Wali hat Spaß am Erzählen. Seit ihm 1980 die Flucht aus dem Irak gelang, lebt er mit kurzen Unterbrechungen in Deutschland-West, spricht fließend Deutsch und gehört mittlerweile zu den arrivierten Schriftstellern, die in erster Sprache auf Arabisch schreiben.

Wali liebt das literarische Spiel mit Biografie, Dokument und Fiktion. Und sein Hirn, das wird auch im Gespräch schnell klar, ist zu 100 Prozent mit Geschichte und Geschichten angefüllt, die er, der 1956 im Südirak Geborene, wie ein riesiger Schwamm in sich aufsaugt. Real Erlebtes, Gehörtes und Recherchiertes sammelt und ordnet er neu – ein permanenter Prozess, der aus Interesse und Leidenschaft in einem beharrlichen Schreibprozess mündet.

Kosmopolitische Chronik

Mit „Engel des Südens“ hat er so ein außergewöhnliches, detailreiches, ins Deutsche übertragenes Epos geschaffen. Es ist die literarische Chronik eines Iraks, dem in der Epoche des Postkolonialismus – Mitte des letzten Jahrhunderts – das Kosmopolitische abhanden kam. Wali beschreibt und inszeniert einen Irak, in dem sich schon vor dem Aufstieg der Baath-Partei und Saddam Husseins die autoritär-religiösen, paternalistisch-völkischen Sichtweisen über alles andere aufschwangen. Ein Irak, der Umstürzen und Putsche erlebte, bis sich am Ende ein staatsterroristisches Regime etablierte, in dem Willkür und Clanstrukturen über rechtsstaatliche Normen dominierten.

Wali beschreibt eine irakische Gesellschaft, ringend um Gut und Böse, Begehren gegen Gewalt, individuelle Würde gegen kollektive Despotie. Dabei sind viele Eindrücke, die seine Figuren hervorrufen, ambivalent. Wali liebt das Spiel mit dem Uneindeutigen, dem Diskursiven. Bedeutete das britische Mandat über den Irak (nach dem Ersten Weltkrieg) vor allem Fremdbestimmung und Besatzung oder auch Zugang zu Welt und Freiheitsrechten? Sein Roman ist höchst brisant, gerade vor der irakischen Kulisse, in der antiimperialistische Verschwörungstheorien oder religiöse Orthodoxien eine große Rolle spielen und über die eigenen Verbrechen der Vergangenheit häufig geschwiegen wird. Wer weiß schon, dass im Irak vor 1948 um die 150.000 Juden lebten? Heute sollen es keine 50 mehr sein.

Walis „Engel des Südens“ erzählt davon, von der liberalen Tradition eines Vielvölkerstaats, in dem Mandäer, Sabäer, Assyrer, Kurden, Armenier, Zigeuner, Chaldäer, Jesiden, Parsen, arabische Sunniten oder Schiiten zusammenlebten. Von einer (post-)kolonialen Situation, als das Land an der Schwelle zur Moderne an der demokratischen Nationengründung scheiterte. Walis Figuren sprechen von der Unaufgeklärtheit feudal wirkender Familien- und Stammesstrukturen, von den großarabisch-sunnitischen Kräften, die sich zunehmend gegen die zivilen städtischen Kerne richten. Wali berichtet aber auch von dem Unentschiedenen zwischen Tradition und Moderne, von halbaufgeklärten Mittelständlern, die glühend eine panarabische Ideologie vertreten, der sie in seinem Roman selbst zum Opfer fallen werden. Da wäre die Geschichte des Doktor Gabbay und seiner schönen Tochter Malaika, die Wali über den Verlauf seiner mehr als 500-seitigen Erzählung immer wieder aufnimmt. Wali schildert Doktor Gabbay als großarabischen Patrioten, glühenden Antiimperialisten, gesitteten Bücherliebhaber und willfährigen Diener arabischer Clans, die mit dem deutschen Nationalsozialismus fraternisieren und deren Hauptpropagandawaffe ein als Antizionismus getarnter Antisemitismus ist.

Doktor Gabbay kann und will keine Pogrome sehen, denen die Minderheiten des Iraks immer stärker ausgesetzt sind. Er sieht nicht, wie Außen- mit Innenpolitik im Nahen Osten miteinander verzahnt sind. Wie die großarabische Rechte Stimmung macht und ihre Jugendorganisation Futuwa plündernd und mordend durch die Viertel der Juden sowie anderer Minderheiten zieht. Gabbay betrachtet sich selbst zuerst als Iraker und dann erst als Juden. Doch dank seiner Mithilfe entsteht ein Regime, das ihm schließlich sein Recht auf Selbstbestimmung und Leben absprechen wird. Es ist die tragische Figur des Antikolonialen, des blinden Antiimperialisten, der die irakisch-jüdische Fluchthilfeorganisation auch dann denunziert, als Brandgeruch über den Städten liegt. Der eifrige Idealist, der Oberst Swadi und seinem Clan zuarbeitet, dem Statthalter des Bösen und lokalen Polizeikommandanten von „Amaria“; der nicht wahrnimmt, wie dieser noch an der Flucht der irakischen Juden heimlich mitverdient.

Gabbays Naivität ist die einer ganzen Generation, die, so beschreibt es Wali, nur noch übertroffen wird von den Sendboten der Kommunistischen Partei. In „Engel des Südens“ sind es überwiegend Lehrer, die arabischen Großnationalismus, Antizionismus und Planwirtschaft in heiliger Einfalt predigen, bevor sie selber als Kommunisten in den Kerkern und Folterkellern des Baath-Regimes verschwinden.

Um über all dies zu sprechen, zoomt Wali über verschiedene Erzählstränge und Personen an die Historie heran. Und er fügt dem eine mythische, surreale Ebene hinzu, die es ihm ermöglicht, sensibel und nüchtern in der Darstellung zu bleiben, die Geschichte aber dennoch zu weiten, um nicht von ihrer Düsternis erschlagen zu werden.

„Engel des Südens“ ist eine Liebeserklärung an den alten, den kosmopolitischen Irak, ein Manifest des antinationalen Widerstands. Und es ist eine sehr persönliche Geschichte, eine Hymne an außergewöhnliche Menschen, Individuen, die es wie Malaika, Naim, al-Malik oder Harun gibt oder gegeben hat. Wali verteidigt gegenüber historisch verbürgten Typen wie „Fauzi, die Pest“, die mit ihren Clans jahrzehntelang das Leben der Menschen in Amara tyrannisierten, seine jugendliche Erinnerung an eine andere Gesellschaft, an starke Mädchen und ein humanistisches Schwärmertum – an Kinos, Nachtclubs, Zeitungen, jüdische Lieder, Chevrolets.

Ezra Pound und T. S. Eliot

Sein Buch folgt dabei keiner linearen Erzählweise. Wali mäandert, schlägt Bögen, wechselt zeitlich und personell immer wieder die Perspektiven. Literarisch ist das ein Genuss. Und mit Lektüre jeder Seite erfahren wir mehr über ein Land, das zum größten Interventionsplatz des Westens seit 1989 wurde.

Wie verwickelt Wali die Geschichte sieht, ist auch seinem Bezug auf Ezra Pound und T. S. Eliot zu entnehmen. Beide sind widersprüchliche Figuren der literarischen Moderne. Pound war poetische Avantgarde, aber auch Judenhasser und Faschist. Wali führt sie so überzeugend in das kolonial-postkoloniale Personensetting des Romans ein, dass man schwören könnte, sie wären damals im Irak gewesen – eine symbolisch-philosophische Zuspitzung. T. S. Eliot als Offizier an der Spitze der englischen Kriegsgräberbrigade „No mans land“, den gab es nicht. Und bei Pound ist vor allem verbürgt, dass dessen Sohn Omar während des Irak-Iran-Kriegs in den 1980er Jahren für Saddam Husseins Regime auf Poesiefestivals Werbung machte, so Wali auf Nachfrage.

Kürzlich war Wali selber zu Besuch im Irak. Seine Bücher sind dort auf Arabisch erhältlich. Doch der Irak bleibt für den Exilanten ein gefährliches Land. „Rendezvous mit einer Autobombe“, so war sein Bericht über die Reise in der Neuen Zürcher Zeitung überschrieben.

Wali nennt die Dinge in seiner Literatur beim Namen. Seine Gegner wissen das auch. Doch wer sonst soll die Geschichte(n) erzählen? Walis Buch ist auch eines der Selbstermächtigung, einer bitter notwendigen: „Nur Harun lachte und lachte, nachdem die Randalierer ihn in die Luft geworfen hatten, und gab kindliche Laute von sich. Nicht weil er keine Ahnung hatte, was um ihn herum vorging, sondern weil er sich über den Matrosenanzug freute, den er zum ersten Mal trug. Diesen kleinen Harun prophezeite Sadiq, der Vater der Toten: Kein anderer als Harun wird die Geschichte erzählen.“ Und so ist es nun ganz unbescheiden gekommen. Harun ist als Najem dem Matrosenanzug entwachsen und hat diese und andere Geschichten fünfzig Jahre später nach dem zitierten Vorfall zu einer irakischen Chronik zusammengefasst. Eine, über die man auch in fünfzig Jahren noch sprechen wird.

Najem Wali: „Engel des Südens“. Aus dem Arabischen von Imke Ahlf-Wien. Carl Hanser Verlag, München 2011. 542 Seiten, 24,90 Euro