Pfleger des eigenen Hasses

Alte Bücher, neu gelesen: Pose oder Tat? Dostojewskis Roman „Dämonen“, ein düsterer Lebensbegleiter, liegt in der Luft

VON DETLEF KUHLBRODT

„Wir befinden uns jetzt nicht im Boudoir einer Zierdame, sondern sind gleichsam zwei abstrakte Wesen … auf einem Luftballon, die sich begegnen, um einander die Wahrheit zu sagen.“

Ich hatte „die Dämonen“ von Dostojewski mit 15 oder 16 Jahren zum ersten Mal gelesen. Der tausendseitige, zwischen 1870 und 1872 geschriebene Roman war Teil meines autodidaktischen Bildungsprogramms, das ich begonnen hatte, nachdem ich Hermann Hesse gelesen hatte, weil die Hippies Hesse gut gefunden hatten – und die Hippies hatte ich wegen dem Woodstock-Film gut gefunden. So kam eines zum anderen, und vielleicht war es sogar so, dass ich über Jack Kerouac zu Dostojewski gekommen bin. Der Dichter der Beatgeneration hatte mich ja auch auf Proust gebracht. Der eine Dichter bürgte für den anderen – über Dostojewski kam man dann zu Camus und Sartre –, und alle waren Teil eines imaginären Gesprächs über existenzielle Fragen, an dem man viel intensiver teilnahm, als wenn man heute liest.

1976 hatte ich jedenfalls eine Bertelsmann-Ausgabe der fünf großen Dostojewski-Romane zu Weihnachten bekommen, die Bücher hintereinander durchgelesen, und Ende 1977 hatte es dann „Die Dämonen“ als Weihnachtsvierteiler im Fernsehen gegeben.

Dostojewski war mein Einstieg in die sogenannte große Literatur. Als Teenager war ich fasziniert und begeistert vom Tempo, der Spannung, der Unbedingtheit der vielen Helden, ihrem existenziellen Fanatismus; der darin besteht, aus dem für richtig Erkannten Konsequenzen zu ziehen. Meine Lieblingsfigur in den „Dämonen“ (die nun in der neuen Übersetzung „Böse Geister“ heißen) war der düstere Ingenieur Kiriloff, der mit einem großartigen Satz den Roman betritt: „Ich habe vier Jahre lang wenig Menschen gesehn. Vier Jahre habe ich wenige gesprochen und mich bemüht, mit keinem Menschen zusammenzukommen, wegen meiner Ziele, die weiter niemanden angehen.“

Am Ende des Romans bringt sich Kiriloff aus philosophischen Gründen um – „ohne alle Ursache und nur um der Eigenmächtigkeit“. Es fiel mir schwer, diese Passagen noch einmal zu lesen, weil sich damals ein Freund mit ähnlichen Begründungen das Leben genommen hatte.

Dieser Dostojewski-Roman hat mich lange begleitet. Proust war ein heller, Dostojewski – trotz all seines Humors, der etwa Eckhard Henscheid sehr beeinflusste – ein düsterer Lebensbegleiter. „Die Dämonen“ nun noch einmal zu lesen, hatte in der Luft gelegen – Frank Castorf hatte gerade zum letzten Mal an der Berliner Volksbühne den Roman inszeniert und Jan Philipp Reemtsma hat kürzlich mit den „Dämonen“ versucht, die RAF zu erklären. Bei der RAF, so Reemtsma, sei es nicht um Politik, sondern um Größenwahn, Machtgier, Lust an der Gewalt und um die Gruppe als Selbstzweck gegangen. Viele Szenen des Romans, der sehr schön auch die Attraktivität des Radical Chic im aristokratischen, liberalen Umfeld beschreibt, legen diese Lesart nahe. Komisch nur, dass Reemtsma zu meinen scheint, Größenwahn und Machtgier seien mit dem Politischen unvereinbar.

Ich fand seine nahe liegende Interpretation oder auch Aktualisierung reduktionistisch. Das Tolle an Dostojewski ist ja, dass er die Mitglieder der Terrorgruppe und des liberal-aristokratischen Milieus, das sie umgibt, zwar karikiert (das war ihm damals vorgeworfen worden), aber dennoch vielschichtig zeichnet; dass er es nicht nötig hat, seine Figuren zu denunzieren. Er zeigt sie als geprägt von ihren unterschiedlichen Biografien; ihre Schwäche liegt darin, dass sie sich nicht von ihren sozialen Determiniertheiten lösen können, dass sie den in ihnen angelegten Hass pflegen. Wie fast alle Protagonisten des Romans sind sie ambivalent (nur die „guten“ Dostojewski-Figuren sind statisch); sie sind vor allem Getriebene, die sich danach sehnen, aus ihrem Immer-weiter-so auszubrechen („Break on thru to the other side“), Teil einer großen, vom Umfeld interessiert verfolgten Geschichte zu werden, die in dem Moment an einer Art Wirklichkeitsschock zusammenbricht, in dem sie gemeinsam einen angeblichen Denunzianten umbringen.

Die Grundfrage, mit der sich fast alle Hauptfiguren des Romans auf unterschiedliche Weise beschäftigen, mit der sie kämpfen, an der sie scheitern, ist immer die gleiche: Literatur, Schauspielerei und/oder Leben. Pose oder Tat; meinst du’s ernst oder tust du nur so. Die Zerrissenheit der Figuren ist die zwischen Papier (oder Medien) und „Wirklichkeit“. Genau darin besteht in einer durch Medienerzählungen und Medien-Inszenierungen geprägten Welt die Aktualität der „Dämonen“.

Beim neuen Lesen dachte ich eher an den amoklaufenden Studenten als an die RAF.

Beginnend mit diesem Artikel, bitten wir in unregelmäßiger Reihe taz-Autoren, ein Buch, das sie einst beeindruckte, noch einmal zu lesen