„Ich habe kein Problem damit, als Fetisch betrachtet zu werden“

BEGEHREN Christian Bayerlein hat spinale Muskelatrophie, braucht rund um die Uhr Hilfe, nennt sich Nerd, liebt „Star Trek“, reist gern und erforscht die Spielarten des Sex. Monogamie, Polyamorie, BDSM – er ist offen

„Ich kenne Menschen, die es erregend finden, jemanden zu füttern oder zu halten, weil er sich selbst nicht halten kann“

INTERVIEW MANUELA HEIM

taz: Herr Bayerlein, Ihr Körper ist bis auf das Gesicht bewegungsunfähig. Können Sie empfinden?

Christian Bayerlein: Anders als etwa bei einer Querschnittslähmung habe ich am ganzen Körper Empfindungen. Bei mir ist die Motorik der Muskeln betroffen, nicht die Sensorik.

Wenn ich Sie ganz leicht am Arm berühre, spüren Sie das?

Ja.

Können Sie auch Schmerz spüren?

Ja.

Sind kitzlig?

Ja.

Sexuell stimulierbar?

Ja.

Können Sie Erektionen bekommen?

Oh ja. Und dadurch, dass ich sehr in meinem Körper eingeschränkt bin und mich selbst nicht berühren kann, sind die Berührungen durch andere für mich noch einmal ein Stück wertvoller.

Beschreiben Sie bitte Ihren Körper.

Ich bin relativ klein. Ein Bekannter, der mich mal gemalt hat, meinte, ich sehe aus wie ein Wollknäuel. Weil alles sehr verbogen und verwurschtelt ist. Meine Arme und Beine sind krumm, mein Rücken ist krumm. Man könnte auch sagen: Ich bin ein Design von Colani. Anders halt. Aber ich finde mich trotzdem schön: Meine Haut, meine Augen. Und ich lege Wert darauf, dass ich mich schön mache. Mit Tätowierungen und so.

Und was spiegeln Ihnen andere Menschen?

Fremde auf der Straße, die schauen verschämt hin oder weg. Das merke ich natürlich. Und dann gibt es die Leute, die mich kennen. Die nehmen mich genauso positiv wahr, wie ich das tue.

Wie sieht Ihr inneres Bild von Ihnen selbst aus?

Ich sehe mich selten als Körperlichkeit. Ich träume auch nicht von mir als Körper, der irgendwo langläuft oder -fährt. Ich bin einfach da.

Und im echten Leben: Wie viel Körper sind Sie da?

Ich spüre meinen Körper sehr intensiv durch seine Beschränkungen, durch das, was ich nicht kann. Was es mir aber recht einfach macht, ihn dennoch positiv zu sehen: Ich habe zum Glück fast keine Schmerzen.

Wirklich? Das hätte ich nicht gedacht.

Ich weiß nicht genau, warum. Ich hatte als Kind nicht diese ganzen Operationen – Wirbelsäulenversteifungen und so – weil meine Eltern dachten, ich würde eh nicht lange leben. Ich will nicht sagen, dass das der Grund ist, aber mein Körper hatte Zeit, sich langsam an die andere Form zu gewöhnen. Als Kind hatte ich eine Wirbelsäulenverkrümmung von 20 Grad, heute sind es über 90.

Sie haben gesagt, Sie empfinden die Beschränkungen Ihres Körpers sehr stark. Heißt das, der Kopf gibt manchmal Impulse und der Körper macht dann einfach nicht mit?

Das passiert auf einer abstrakteren Ebene. Bei Empfindungen, die körperlich werden wollen. Jemanden in den Arm nehmen zum Beispiel. Oder beim Sex selber mal die Initiative ergreifen.

Welche Rolle spielt Körperlichkeit in Ihrem Leben?

Mittlerweile eine sehr große. Ich würde mich jetzt sogar als Sex-Nerd bezeichnen.

Wie kam das?

Da bin ich reingerutscht. Ich war geistig schon früh sehr weit entwickelt, ein Nerd. Aber körperlich war ich ein Nachzügler, das Thema Lust und Befriedigung spielte für mich erst so ab 16 eine Rolle. In der Pubertät hatte ich dann viele unerwiderte Verliebtheitssituationen. Das geht natürlich anderen auch so, aber ich habe das damals klar auf meine Behinderung bezogen. Mit 25 habe ich dann meine erste Freundin im Internet kennengelernt, im Klingonen-Fanclub. Wir haben uns in der virtuellen Welt verliebt. Das ist mir vorher auch schon passiert, da hat das aber in der Realität nicht funktioniert. Mit dieser Frau war ich dann in einer ziemlich klassischen Beziehung. Wir haben auch zusammengewohnt, wie man sich das so vorstellt.

Hatte sie auch eine Behinderung?

Nein. Nach sieben Jahren hat sie sich jedenfalls von mir getrennt. Das war schlimm. Ich fiel in ein Loch. Dann hatte ich eine kurzfristigere Begegnung, die mir gezeigt hat, dass mich auch andere attraktiv finden. So wurde ich ziemlich schnell aus dem Loch gefischt und habe angefangen, darüber nachzudenken, was ich will. Klar, schon eine partnerschaftliche Beziehung. Aber auf der anderen Seite habe ich auch ganz normalen sexuellen Druck gespürt. Dann hab ich mich im Internet bei einer „Community für stilvolle Erotik“ angemeldet.

Diesen sexuellen Druck spüren viele, die wenigsten werden so aktiv.

Die haben aber die Möglichkeit, sich selbst zu befriedigen. Genau das kann ich nicht. Ich habe damals auch Sexualbegleitung genutzt, aber das war mir schnell zu kompliziert und zu teuer. Da muss man drei Wochen im Voraus Termine ausmachen für ein Bedürfnis, das spontan ist. Deshalb habe ich angefangen, spezielle Internet-Netzwerke zu nutzen.

Fühlen Sie sich im Internet so körperlos wie in den Träumen?

Ja und nein. Gerade die sozialen Netzwerke machen mich viel freier. Freier, als es mein Körper mit all seinen Einschränkungen jemals zulassen würde. Freier sogar als manch andere, weil ich gelernt habe, über die Sprache zu kompensieren, was mein Körper nicht kann. Nun ist das Netz, das wir heute haben, aber immer noch etwas anderes als die Vision von einer virtuellen Realität.

Also einer Welt, die virtuell ist, sich aber real anfühlt?

Ja. So eine Netzwelt, in der es echte Sinnesimpulse und Empfindungen gäbe, die hätte auf jeden Fall einen enormen Reiz für mich, vielleicht sogar einen Suchtfaktor.

Bewegen Sie sich gezielt in Foren für Menschen mit Behinderung?

Nicht nur. Meine zweite Freundin habe ich über dieses Portal kennengelernt, ganz real. Das war ziemlich speziell, so richtig Liebe war da nicht im Spiel. Eine offene Beziehung, das kannte ich gar nicht vorher. Nichtsdestotrotz hat mich diese Frau sehr an meine Grenzen gebracht. Es gab zum Beispiel eine große BDSM-Komponente in der Beziehung, sie war sexuell der devote Part.

Und das mit Ihnen, der kaum körperlich aktiv werden kann?

Ja, spannend, oder? Das funktionierte vor allem auf sprachlicher Ebene, letztlich fehlte ihr aber doch die körperliche Dominanz durch mich. Ich habe mich dann sehr zurückgewiesen gefühlt. Das war hart, hat mir aber auch klar meine Grenzen gezeigt. Diese Beziehung war eine Konfrontation mit meiner eigenen Sexualität, mit Fetischen, mit Polyamorie. So bin ich da reingerutscht und habe Dinge kennengelernt, die mich anmachen, von denen ich das nie gedacht hätte. Zum Beispiel eben mit einer devoten Frau zu tun zu haben, das fand ich sehr geil. Oder mit Menschen zu tun zu haben, für die Behinderung der Fetisch ist. Ich kenne Menschen, die es erregend finden, jemanden zu füttern oder zu halten, weil er sich selbst nicht halten kann.

Warum?

Warum jemand explizit mit einem behinderten Mann zusammen sein will, kann viele Gründe haben – etwa auch die Angst vor körperlicher Dominanz, gerade bei Missbrauchsopfern.

Haben Sie ein Problem damit, als Fetisch betrachtet zu werden?

Bis jetzt nicht.

Mit wie vielen Frauen hatten Sie bislang sexuellen Kontakt?

Zwischen zehn und zwanzig.

Was denken Sie, wie viele dieser Frauen Sie als Fetisch betrachtet haben, also nur deshalb sexuellen Kontakt mit Ihnen hatten, weil Sie behindert sind?

Bei einer weiß ich es, bei einigen anderen hatte ich das Gefühl, aber die haben das selbst nicht so benannt.

Haben Sie jemals Angst um Ihren Körper?

Sehr, sehr selten.

Aber mal ehrlich, Sie bewegen sich im BDSM-Bereich. Was ist, wenn es jemand geil findet, Ihnen wehzutun?

Stimmt, aber die Kreise, in denen ich mich bewege, sind sehr achtsam. Es gibt immer vorherige Absprachen. Gott sei Dank ist die Palette der Dinge, auf die die Menschen stehen, sehr unterschiedlich. Worauf ich hinaus will: Für manche Leute ist es eben etwas ganz Besonderes, wenn sie jemanden gefunden haben, der sich körperlich so hingeben kann, wie ich es tue und tun muss. Auf der anderen Seite bin ich auf der mentalen Seite ein sehr nehmender Charakter. Das ist eine interessante Mischung, die es für einige Menschen spannend macht.

Dass Sie diese körperliche Passivität als nicht bedrohlich empfinden, sogar genießen können – hat das etwas damit zu tun, dass Sie ein Mann sind?

Nach meiner Erfahrung haben Frauen mehr Angst vor sexuellen Übergriffen, und das ist durchaus berechtigt. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber die Männer, die auf behinderte Menschen stehen, haben dafür häufig ganz andere Gründe als andersherum. Eine andere Art von Dominieren-Wollen, Sexismus.

In gewisser Weise verstärkt sich also für behinderte Frauen das körperliche Machtgefälle zwischen Männern und Frauen?

Auf jeden Fall. Und bei mir hat es eher eine ausgleichende Funktion, weil ich gezwungen bin, gerade mit körperlichen Machtunterschieden und daraus entstehenden Rollenbildern viel reflektierter umzugehen.

Welchen Stellenwert hat Liebe für Sie?

Einen großen. Ich gehe nicht so weit zu sagen, ich kann Sex nicht ohne Liebe haben. Aber ich weiß um die Besonderheit von Sex, der auch mit Emotionen verknüpft ist. Zu lieben und geliebt zu werden ist für mich sehr bedeutsam. Und ich habe für mich die Erfahrung gemacht, dass das ohne Qualitätsverlust auch geht, wenn zum Beispiel die Frau noch einen zweiten Freund hat.

In welcher Konstellation leben Sie heute?

Im Moment ist irgendwie alles in Bewegung. Ich hatte jetzt zwei Freundschaften plus.

Also Freundschaften mit körperlichen Kontakt?

Ja. Bei beiden war die Basis eine Freundschaft, das ist nicht schlecht, daraus kann eine große Nähe und Verbindlichkeit entstehen. Aber ich hatte eben nicht das Bedürfnis, mit denen zusammenzuziehen und Kinder zu bekommen oder so etwas. Und jetzt, na ja, gerade bin ich sehr verliebt, also seit einigen Wochen in einer Beziehung. Wir legen den Fokus gerade darauf, der ein festes Fundament zu geben. Polyamorie ist nicht komplett ausgeschlossen, aber Priorität hat das gerade nicht.

Haben Sie heute das Gefühl, dass Sie Ihren körperlichen und geistigen Bedürfnissen entsprechend leben?

Ich bin da noch nicht am Ende. Ich weiß nicht, wie stabil alles ist. Aber für den Moment würde ich sagen, alles perfekt. Sehr vielen Menschen mit Behinderung geht das anders, aber ich habe meine Nische gefunden.

Hätte die Vision, von der wir vorhin sprachen – eine virtuelle Welt, in der es die Vorzüge der Körperlosigkeit gepaart mit echten körperlichen Empfindungen gibt –, dann für Sie überhaupt noch einen Reiz?

Oh ja. Es ist doch so: In einer solchen Welt könnte sich jeder seinen Körper aussuchen, ich wäre also dann absolut gleichrangig. Das, was meine Behinderung aus mir gemacht hat, quasi die geistige und charakterliche Kompensation der fehlenden körperlichen Ebene, die hätte ich ja dann noch on top. Also ehrlich, ich glaube, in dieser Welt hätte ich zehn Frauen an jedem Finger.

Christian Bayerlein, 39, ist Webentwickler beim Bundesarchiv und ehrenamtlicher Behindertenbeauftragter der Stadt Koblenz