: Roter Backstein und saurer Hering
Der Backstein prägt das Bild der gotischen Bauwerke und Städte entlang der Ostseeküste. Stralsund ist eine dieser Hansestädte. Seit dem Besuch von US-Präsident George W. Bush und zum G-8-Gipfel im nicht weit entfernten Ostseebad Heiligendamm hofft die Stadt auf Besucher aus aller Welt
VON EDITH KRESTA
Wolfgang Mazart empfängt uns im historischen Gewand eines mittelalterlichen Stralsunder Stadtvaters: langer, schwarzer Gehrock und schwarzer Federhut. Wir schlendern gemeinsam durch die Altstadt. Vorbei an sanierten Bürgerhäusern aus rotem Backstein, die detailgetreu an Fassaden, Türen und Fenstern saniert sind. Die weiße Feder an Mazarts schwarzem Bürgerhut wippt bei seiner eindringlichen Schilderung der Geschichte Stralsunds heftig mit. Wolfgang Mazart, Fremdenführer aus Passion, erzählt von durch Fisch reich gewordenen Bürgern, dem Beruf des Henkers, dem mittelalterlichen Rotlichtviertel in der Bäderstraße, von der Belagerung durch Wallenstein und der darauf folgenden 200-jährigen schwedischen Herrschaft. Er zeigt uns das Stammhaus der Kaufhaus-Dynastie Wertheim in der Altstadt.
Die eher graue DDR-Geschichte kommt nur am Rande seiner Schilderungen vor oder beim Vorbeischlendern an einer Plattenbausünde. Am 6. Oktober 1944 war Stralsund Ziel eines Bombenangriffs der Alliierten, die ihr eigentliches Ziel Stettin nicht anfliegen konnten. In dieser Nacht wurden über 800 zivile Opfer gezählt, die historische Altstadt stark beschädigt. Zu DDR-Zeiten wurden die Lücken mit Plattenbausiedlungen geschlossen. Der historische Altstadtkern verkam. Seit der Wiedervereinigung Deutschlands wird die historische Bausubstanz saniert mit privatem Kapital sowie großer finanzieller Mittel aus Bundes-, Landes- und Gemeindekassen. Viele Häuser wurden so in letzter Sekunde vor dem Verfall gerettet. Inzwischen sind rund 80 Prozent der Häuser in der Altstadt saniert.
Unser Guide sprudelt über von Geschichten. Zum Beispiel wie der Bismarckhering zu seinem Namen kam. Die findige Kaufmannsfrau Karoline Wiechmann aus der Stralsunder Heiliggeiststraße legte um 1871 den Ostseehering erstmals in einen saueren Aufguss. Ein Holzfässchen davon wurde dem vom Gatten verehrten Reichskanzler Otto von Bismarck zum Geburtstag nach Berlin gesandt. Um ihn – etwas später und nach einem zweiten Fässchen – als Gegenleistung zum Namensgeber dieser neuen Heringskreation zu bitten. Bismarck willigte ein.
„Reich wurden die Bürger vor allem durch den Pelzhandel mit dem russischen Nowgorod“, doziert Mazart. Drei große mittelalterliche Backsteinkirchen (Sankt Marien, Sankt Nikolai und Sankt Jakobi) zeugen von einstiger Größe und Macht. 1234 erhielt die kleine Siedlung an der Meerenge südlich der Insel Rügen Stadtrechte nach Lübecker Vorbild, und wenige Jahrzehnte später erfolgte der Beitritt zur Hanse. „Schauen Sie nach oben“, fordert uns Mazart am Alten Markt auf. Wir stehen vor dem Rathaus mit seinen imposanten Schaugiebeln. Ausdruck des Selbstbewusstseins der Stralsunder Bürger. Das sanierte Rathaus ist ein repräsentatives Beispiel deutscher Backsteingotik. Das komplette Ensemble des Alten Marktes birgt mit Rathaus, Artushof, Wulflamhaus, Commandantenhus, Gewerkschaftshaus und Plattenbau einen Überblick über die politische und architektonische Geschichte der Stadt. Im Straßencafé zum Goldenen Löwen am Alten Markt, mit seinem modernen, klaren Design können wir dieses windgeschützt betrachten. Am 27. Juni 2002 wurde die Altstadt Stralsund zusammen mit Wismar in die Welterbeliste der Unesco aufgenommen.
Wir schlendern weiter zum Hafen. Auch hier Backsteingotik pur. Vom Hafen fahren die Schiffe auf die Urlauberinseln Rügen und Hiddensee. Rügen erreicht man auch über den Rügendamm, der das Festland und die Insel verbindet. Im Herbst soll auch die zweiten Strelasundquerung, eines der längsten Brückenbauwerke Deutschlands, fertig sein: die Rügenbrücke. Die dreispurige Schnellstraße soll den stark beanspruchten Rügendamm entlasten.
Im Hafen liegt das alte Segelschulschiff „Gorch Fock“ malerisch vor den leerstehenden alten Lagerhallen. „Die ‚Gorch Fock‘ ist die Liebe meines Lebens“, gesteht Nicole Merten, Geschäftsführerin der „Gorch Fock“. Für das Schiff hat die gebürtige Hamburgerin Freund und Heimatstadt verlassen und sich hier im „spröden“ Stralsund niedergelassen. Sie führt uns durch den historischen Achtmaster. Der wirkt in manchen Ecken noch sehr heruntergekommen – seine aufregende Geschichte sieht man dem Schiff an.
Am 3. Mai 1933 lief die „Gorch Fock“ bei der Werft Blohm & Voss in Hamburg vom Stapel. Auftraggeber war die deutsche Reichsmarine. Das Ausbildungsschiff bot Platz für 198 Seekadetten. Nicole Merten führt uns in die Mannschaftsräume im Unterdeck: In Hängematten schliefen dort 198 Kadetten. Die Haken sieht man noch. Heute wird hier so manches Familienfest gefeiert. Der Gorch-Fock-Verein bietet Raum für Feste auf dem Schiff. Aktivitäten, um die weitere Restaurierung und den Unterhalt der Schiffslegende zu sichern.
Wir betreten die Kapitänskajüte. Braune Bezüge auf schlechtverarbeiteten Holzgestellen, billige Lampen. Ost-Charme. Die kleine Kajüte dient heute auch als Standesamt. Das Interieur verweist auf die weitere Geschichte der „Gorch Fock“. Als sich 1945 die Rote Armee Stralsund näherte, wurde die Versenkung der „Gorch Fock“ beschlossen, um sie nicht der Sowjetarmee zu überlassen. Die „Gorch Fock“ lag nun auf der Position 54 [o]Nord, 13 [o]Ost im Strelasund, mit stehenden Masten und gut sichtbar. Nach dem Ende des Kriegs wurde sie als Kriegsbeute der Sowjetunion zugesprochen. Sie wurde gehoben und als Segelschulschiff der sowjetischen Marine unter dem Namen „Towarischtsch“ (Genosse) in Dienst gestellt. 1999 schließlich wurde die „Towarischtsch“, inzwischen ausgemustert und in beklagenswertem Zustand, mit Unterstützung des Vereins „Tall Ship Friends“ nach Wilhelmshaven gebracht, wo sie als Flaggschiff der Expo 2000 am Meer eingesetzt war. 2003 wurde das Schiff von dem Verein „Tall Ship Friends“ gekauft. Die Stadt Stralsund machte ein Liegeplatzangebot. Nach vierjährigen Reparaturarbeiten in Wilhelmshaven taufte man sie 2003 im Beisein tausender Stralsunder wieder auf ihren alten Namen.
Die Restaurierungsarbeiten an der „Gorch Fock“ gehen weiter. Die neue, alte Küche an Bord ist schon edelstahlverkleidet. Demnächst soll an Bord eine Gaststätte in Betrieb genommen werden. Nicole Merten träumt schon weiter: Schon bald will sie wieder mit der „Gorch Fock“ auslaufen. Diesmal als Segelschule für Touristen.
Im alten Hafen wird gedreht. Der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ am 30. Januar 1945. Die größte Katastrophe in der Seeschifffahrt: Die „Wilhelm Gustloff“ wurde von einem sowjetischen Torpedo-U-Boot mit den meisten ihrer 10.582 Passagiere versenkt. Zumeist waren es Flüchtlinge aus dem Osten – Frauen und Kinder. Ein Flüchtlingstreck ist vor der ohnehin perfekt historischen Hafenansicht aufgebaut. „Alle reden von der ‚Titanic‘. Dabei war die ‚Gustloff‘ die viel größere Katastrophe“, sagt die Wirtin vom „Klabautermann“ am Querkanal. Hier, wie überall im Hafenviertel, wird frischer Fisch angeboten. Und zu Hering, Heilbutt und Scholle dudeln Seemannslieder aus den 60er-Jahren aus den Boxen: „Und am Abend träumen sie von Santa Domingo“ oder „Ich bin ein Mädchen aus Piräus“ – Touristen scheinen das zu mögen.
Hier auf der Hafeninsel wurde am 6. September 2005 zwischen den alten Lagerhallen der erste Spatenstich für das Ozeanum des Deutschen Meeresmuseums gesetzt. Mit dem von dem Architekten Günter Behnisch entworfenen Ozeanum entsteht ein spektakulärer Museumsneubau mit Aquarien. Der Erweiterungsbau des Museums ist das wichtigste Neubauprojekt der Bundesregierung in den neuen Ländern. Der futuristische Bau soll im Herbst fertiggestellt werden. Er fügt sich – für unseren Geschmack – gut in die Backsteingotik ein. Das Deutsche Meeresmuseum ist bislang in der Altstadt in einer frühgotischen Klosterkirche untergebracht. Ein architektonisches Kleinod.
Birgit Wacks vom Tourismusamt Stralsund, direkt am Alten Markt gelegen, reicht uns den ultimativen Flyer zur Route der Backsteingotik. Diese zieht sich von Dänemark bis Estland die Ostseeküste entlang. Birgit Wacks preist das kulturelle Angebot Stralsunds. Das sei noch viel zu unbekannt. „Der Besuch von US-Präsident George W. Bush im Juli vergangenen Jahres war das beste Marketing für uns“, sagt sie. Bush folgte mit seinem Besuch einer Einladung von Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihren vorpommerschen Wahlkreis. Über 12.000 Polizisten waren im Einsatz und riegelten die Altstadt ab, mehr als 2.000 Gullydeckel wurden verschweißt, Geschäfte und Büros mussten geschlossen bleiben und zahlreiche Bewohner saßen bei geschlossenen Fenstern in ihren Wohnungen fest. „Aber alle haben sich gefreut. Da war was los im beschaulichen Stralsund“, bestätigt Hanni Höppner, die Besitzerin der ältesten Kneipe Stralsunds, „Zum Fährkrug“. Der „Fährkrug“ wurde bereits 1332 erwähnt. Wir sind dorthin vor dem Ostwind geflohen, um uns bei einem köstlichen dunklen Störtebeker-Bier aufzuwärmen. Hanni Höppner hat es sogar bis ganz nach vorn geschafft und ein Autogramm von Bush auf den Arm erhascht. Die Welt zu Gast in Stralsund. Das ist wie das Vorspiel zum G-8-Gipfel, der nun im nahen Ostseebad Heiligendamm stattfindet. Auch der wird das Augenmerk für diese eigenwillige Region erhöhen.
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