: Irrsinnig schön
1945–1990 Kalter Krieg, gut beheizter Mythos Kreuzberg: Westberlin von Stunde null bis zur „logischen Sekunde“
VON HELMUT HÖGE
Der Maler Thomas Kapielski meinte noch 1988: „Nach Berlin sind immer nur solche Leute gezogen, die im Malen eine Eins und im Rechnen eine Fünf hatten.“
Der Kabarettist Wolfgang Neuss behauptete: „Der Bau der Mauer hat auch sein Gutes gehabt: Die schlimmsten Leute haben damals die Stadt verlassen!“
Ein anderer fügte später hinzu: „Der Fall der Mauer ist auch ein Unglück: Jetzt wird Berlin wieder von lauter schrecklichen Leuten heimgesucht, die sich hier alle einwichtigen wollen!“
Und so geschah es dann auch.
„Es ist genug. Wir Westberliner werden dermaßen an den Rand gedrängt, dass man dagegen was unternehmen muss. Ich will nun versuchen, dass Westberlin als Weltkulturerbe von der Unesco anerkannt wird“, schrieb die in Steglitz lebende Bühnenbildnerin Jeanette Schirrmann 2013 in einer Petition an den Berliner Senat. Sie bezeichnet sich als „Insulanerin“ in der dritten Generation.
Die „besondere politische Einheit Westberlin“ existierte jedoch nur 45 Jahre, seit der Wiedervereinigung und dem Abriss der Mauer ist sie im Verschwinden begriffen. Die meisten Berliner Industriebetriebe sind schon weg. Kunst, Kultur und Tourismus sollen neue Arbeitsplätze schaffen, zu weit schlechteren Bedingungen, meist als Dienstleister. In Berlin bedient man aber nicht gerne – schon seit dem berühmten „Berliner Unwillen“ 1448. Noch die schlechte Laune der Kellnerinnen in der DDR war eine „echte sozialistische Errungenschaft“, wie der Dramatiker Heiner Müller meinte.
An der Stunde null standen die Trümmerfrauen
In der öffentlichen Erinnerung an die Anfangszeit blieben vor allem die Trümmerfrauen, die sich aus Angst vor den anrückenden Russen zunächst in den Kellern verborgen hatten. Schon bald bestimmten sie das Straßenbild, wo sie in kettenbildenden Gruppen den Schutt beseitigten. Der Klavierstimmer Oskar Huth schrieb über die berühmte „Stunde null“ 1945 in seinem „Überlebenslauf“: „Als die letzten Kämpfe in Wilmersdorf verstummt waren, kam ein Trupp Rotarmisten und befahl den Männern, aus ihrem Luftschutzkeller zu kommen und sich auf der Straße zu versammeln. Ein Offizier verteilte Becher mit Wodka und forderte sie auf, mit ihm auf den Sieg über den Faschismus anzustoßen. Einer, der ein Magengeschwür hatte, weigerte sich. Er wurde sofort erschossen.“
Ein englischer Reporter notierte sich: „Die Bevölkerung ist apathisch. Die Lage ist ‚terribly im- and depressing‘.“
In Westberlin entstanden zunächst an immer mehr Orten Schwarzmärkte, und jede Freifläche wurde landwirtschaftlich genutzt, in einigen Hinterhofremisen und Schrebergärten stallte man Kühe ein, die innerstädtischen Wälder und der Tiergarten wurden zu Brennholz zerhackt. Schnell wurde auch der „Kalte Krieg“ spürbar: Die Westalliierten führten 1948 eine „Währungsreform“ durch, was die sowjetische Seite mit einer „Blockade“ der Zufahrtswege nach Westberlin beantwortete. Die Amerikaner und Engländer versorgten daraufhin die „Frontstadt“ aus der Luft – mit den sogenannten Rosinenbombern.
Im Osten war es an der Humboldt-Universität wegen Reglementierungen durch die Kommunisten immer wieder zu „Unruhen“ gekommen, was zur Gründung einer „Freien Universität“ (FU) im Westen führte. Auch dort gab es bald Auseinandersetzungen – wenn zum Beispiel Agitationskollektive der FDJ auf dem Campus auftauchten.
Ins Visier der Weststudenten geriet umgekehrt der einst von den Nazis aus der Akademie der Künste ausgeschlossene Karl Hofer, der nach 1945 die Hochschule der Künste wiederaufgebaut hatte und ihr Rektor geworden war. Er wurde wie auch andere Berliner Kulturschaffende mit Lebensmittelpaketen aus dem Osten unterstützt, und so hieß es in einer studentischen Protestresolution: „Was Hofer für die Russen leistet, zeigen die Pajoks, die er von ihnen erhält. Die Künstler, die sich gleichzeitig vom Westen und vom Osten ernähren lassen, nehmen an Umfang ständig zu.“ Diese Vorwürfe wurden während der fünfzehnmonatigen Blockade 1949 erhoben. Die eher unterernährten Studenten waren der Auffassung, dass Hofer deshalb „zur Erziehung der Jugend völlig ungeeignet“ sei.
Im Jahr darauf wurde Westberlin von der Bundesregierung zum „notleidenden Gebiet“ erklärt: Es fehlte an Wohnraum, die Hälfte der Bevölkerung von damals 2,5 Millionen lebte noch in unzumutbaren Verhältnissen, und nach wie vor strömten täglich Tausende von Flüchtlingen in die Stadt. Um diese triste Situation etwas aufzuheitern, bereiteten die Amerikaner ein Filmfestival vor: die erste „Berlinale“ (1951).
Potsdamer Platz zum Schäferhundeabrichteplatz
Am 17. Juni 1953 gingen in Ostberlin Zehntausende auf die Straße, um gegen Arbeitsnormerhöhungen der Regierung zu protestieren, die eine Verschlechterung der Lebensbedingungen bedeuteten. Die Demonstranten wurden massiv von Westberlin aus unterstützt, wo es bald von Agenten und Spitzeln jeder Couleur, aber auch Wirtschafthasardeuren wimmelte. Um den leer gebombten Potsdamer Platz entstand ein Schäferhundeabrichteplatz nach dem anderen, auf dem „Gestapo-Gelände“ an der Wilhelmstraße eröffnete der Travestiekünstler „Straps-Harry“ ein Autodrom, in einige Botschaftsruinen zogen Penner, der Maler „Piko“ besetzte mit seinem Esel die japanische Botschaft, links und rechts des Kurfürstendamms sowie an der Potsdamer Straße und am Stuttgarter Platz eröffneten Bordelle.
1957 war der Publizist Erich Kuby nach einer Recherchetour durch die DDR und die BRD zu dem Schluss gekommen, dass es nur im Osten eine politisierte, zu „Unruhen“ fähige studentische Jugend gäbe: „Westdeutsche Jugend findet politisch nicht statt.“ Dies galt auch und erst recht für die in Westberlin, die er damals als „bürgerlich“ und antikommunistisch verhetzt einschätzte. Keine zehn Jahre später hatte sich dieser Befund jedoch umgedreht, nicht zuletzt durch sein eigenes Wirken, wofür ihn die FU 1965 nach dem sogenannten Kuby-Semester mit einem Haus- und Redeverbot ehrte.
1961 war Westberlin von den Kommunisten eingemauert worden. Die letzten Reichen verließen daraufhin fast fluchtartig die Stadt. In ihre Luxuswohnungen am Ku’damm zogen Studenten ein, und es entstanden dort linke Clubs, Kneipen und Kinos. Geld spielte damals nur eine kleine Rolle – dank „Frontstadtlage“, „Berlinzulage“, Kunstförderung und „Senatsreserven“ zur Notversorgung der Bevölkerung im Falle einer erneuten „Berlin-Blockade“, die immer mal wieder billig abgegeben wurden.
Der freischaffende Kunsttrinker in Kreuzberg
Der besonders heruntergekommene Arbeiterbezirk Kreuzberg hatte sich unterdessen zu einer „Kunstwiege“ entwickelt, begründet unter anderem von Kurt Mühlenhaupt: Erst in einigen kaputten, aber gut geheizten Kneipen und dann ab 1959 mit der Galerie „Zinke“ in der Oranienstraße. Diese „Kreuzberger Nachkriegsboheme“ wurde nicht zuletzt inspiriert von dem während der Nazizeit untergetauchten Oskar Huth, dem die Amerikaner erst die „evidence of anti-Nazi activities“ bescheinigten und dann eine Stelle im Kultursenat antrugen. Er zog es jedoch vor, „freischaffender Kunsttrinker“ zu bleiben. Bald gab es drei Stammtische, an denen man sein Wirken und Denken würdigte.
Schon 1964 registrierte Ingeborg Bachmann, dass Kreuzberg schwer „im Kommen“ sei. In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises sagte sie: „Die feuchten Keller und die alten Sofas sind wieder gefragt, die Ofenrohre, die Ratten, der Blick auf den Hinterhof. Dazu muss man sich die Haare lang wachsen lassen, muss herumziehen, muss herumschreien, muss predigen, muss betrunken sein und die alten Leute verschrecken … Man muss immer allein und zu vielen sein, mehrere mitziehen, von einem Glauben zum andern. Die neue Religion kommt aus Kreuzberg, die Evangelienbärte und die Befehle, die Revolte gegen die subventionierte Agonie. Es müssen alle aus dem gleichen Blechgeschirr essen, eine ganz dünne Berliner Brühe, danach wird der schärfste Schnaps befohlen, und immer mehr Schnaps, für die längsten Nächte. Die Trödler verkaufen nicht mehr ganz so billig, weil der Bezirk im Kommen ist, die Kleine Weltlaterne zahlt sich schon aus, die Prediger und die Jünger lassen sich bestaunen am Abend und spucken den Neugierigen auf die Currywurst.“
Später kam noch eine ansehnliche Gruppe von Flüchtlingen aus Wien dazu, die sich im „Exil“ am Paul-Lincke-Ufer ansiedelte, beginnend mit dem Kybernetiker und Gastwirt Oswald Wiener, dessen Tochter Sarah heute die gehobene Gastronomie aufzumischen versucht. Noch später eröffnete der ehemalige Berufsrevolutionär Pierrot, der in Westberlin italienische Gastarbeiter organisieren sollte, ein Restaurant der gehobenen italienischen Küche nach dem anderen.
Auch etliche der Gastarbeiter eröffneten italienische Restaurants, nachdem man zum Beispiel die „Spinne“, eine Kunstfaserfabrik in Zehlendorf, geschlossen hatte und sie ihre Arbeitsplätze verloren. Nach dem Mauerbau waren die deutschen Arbeiter scharenweise in den Westen gezogen, die Trevira-Produktion der Hoechst AG war jedoch als einer der wenigen Betriebe in Zehlendorf geblieben, worauf man beschloss, italienische und türkische Arbeiter anzuwerben. Um sie zu halten, gestand man ihnen viele Vergünstigungen zu. 1977 verlagerte Hoechst seine Trevira-Produktion aber nach Chile, dort bekamen die Arbeiter seit dem Pinochet-Putsch nur noch 30 Pfennig pro Stunde.
Das antikommunistisch verhetzte Subproletariat sowie die Rocker und Neonazis in Kreuzberg hatten sich die Künstler in den fünfziger- und sechziger Jahren gerade noch gefallen lassen, als aber in den Siebzigern immer mehr linke Studenten dort hinzogen und sich in den damals noch wenigen Kneipen breitmachten, gab es Zoff, das heißt Kneipenschlägereien. Die betroffenen Wirte, vorneweg vier Brüder – die aus Israel geflüchteten palästinensischen Betreiber der Restaurants Stiege und Samira – organisierten eine Kneipenwehr. Danach wurde es ruhiger.
Wir schreien’s laut: Ihr kriegt uns hier nicht raus!
1972 kam es dafür dann nach der Besetzung des leer stehenden Armenkrankenhauses Bethanien zu einem ersten Konflikt zwischen Künstlern und Linken, während gleichzeitig die Bezirksverwaltung in Kreuzberg immer mehr alte Wohnsubstanz aufgab und für großflächige Neubebauungen votierte. So wollte die „Baulöwin“ Sigrid Kressmann-Zschach an Stelle des leer stehenden Bethanien-Komplexes ein modernes Wohn- und Shoppingcenter errichten, die Denkmalschützer konnten den Abriss jedoch verhindern.
Eine Gruppe, bestehend aus damals besonders unruhigen Lehrlingen und Heimkindern, rief während eines Teach-ins im Audimax der TU, auf dem die Kreuzberger Band Ton Steine Scherben spielte, zur Besetzung des leer stehenden Bethanien-Krankenhauses auf, das heißt erst einmal des Lehrschwesternhauses neben dem Hauptgebäude. Die aus dem SDS hervorgegangenen Basisinitiativen, die eine „Randgruppenstrategie“ verfolgten, solidarisierten sich sogleich, schoben nächtens zur „Abwehr von Polizei und Faschos“ Wache und machten sich nützlich, indem sie aufräumten und fegten, während das Besetzerplenum ununterbrochen diskutierte. Wenig später trat auch noch die maoistische Partei KPD/AO mit einem „Kampfkomitee Bethanien“ auf den Plan und machte sich für eine Kinderpoliklinik stark.
Mit der Alternativen Liste, den Westberliner Grünen, entwickelte sich dann auch (wieder) ein staatsintegratives Soziotop, das dazu alternatives Kleingewerbe und überhaupt marktwirtschaftliches Denken begünstigte.
Anfang der siebziger Jahre waren zeitgleich mit den linken Studenten auch immer mehr türkische Gastarbeiter aus den Betriebswohnheimen nach Kreuzberg gezogen. 1978 gelangte ein Schunkellied der Gebrüder Blattschuss, „Kreuzberger Nächte sind lang“, in die Hitparade. Da hatte sich die „Politisierung“ der Studenten bereits derart auf einige Aspekte des Alltags – vor allem die „behutsame Stadterneuerung unter ökologischem Vorzeichen“ – beschränkt, dass sie in ihrem „Kiez“ mit den Türken aneinandergerieten. In diesen sahen sie bald nur noch „Stoßtrupps der Hausbesitzer“ – zum endgültigen Herunterwohnen der letzten Altbausubstanz.
1980 schrieb die Szenezeitung zitty: „In einem Türkenghetto entscheiden nur noch Justiz und Polizei … Türken raus? Warum nicht. Zumindest einige. Es sei denn, man will den Stadtteil sterben lassen.“
Irgendwann gewöhnte man sich aber aneinander, zumal die meisten Türken noch Kommunisten waren. Und man lernte auch von ihnen. Damals war zum Beispiel das Betreten der Rasenflächen noch streng verboten; eine Kreuzberger Sozialarbeiterin erinnert sich, dass es auf dem Mariannenplatz die Türken waren, die das Verbot zuerst übertraten: „Wir Deutsche haben es ihnen dann bloß nachgemacht.“
Die linken türkischen Organisationen hatten ihren proletarischen Anhängern im Ausland zunächst geraten, sich politisch auf ihre Rückkehr in die Heimat zu konzentrieren, nach einigen Jahren gingen aber auch sie von einer permanenten Diaspora aus, wo man auch für Arbeitnehmer- und Mieterrechte kämpfen muss. Bald gab es in fast allen größeren Westberliner Fabriken türkische Betriebsräte, und die leer stehenden Souterrainräume im Viertel wurden von türkischen Arbeitervereinen genutzt. Einen – mit Leninschulung – gibt es im linken Zentrum Mehringhof noch heute.
Inzwischen gibt es allerdings kaum noch türkische Arbeiter: Viele Westberliner Betriebe wurden nach der Wende dichtgemacht. Dies zwingt die Türken mehr und mehr, sich selbstständig zu machen: inzwischen tragen sie schon fast die gesamte Kreuzberger Ökonomie. Die Deutschen sind heute – zumindestens in SO 36 – beinahe nur noch Nutznießer der einstigen Kämpfe und Genießer des daraus entstandenen „Flairs“ beziehungsweise der Reste davon.
1981 besetzte eine Frauengruppe die ehemalige Schokoladenfabrik am Heinrichplatz (es war ungefähr die 170. Hausbesetzung): Neben einem türkischen Frauenbad (Hamam) entstand dort ein „Treffpunkt, Bildung und Beratung für Frauen und Mädchen aus der Türkei“, gleichzeitig beteiligten sich Künstlerinnen aus der Schokofabrik an der Ausstellung „Unbeachtete Produktionsformen“ im Bethanien. Der in Ost- und Westberlin lebende Autor Klaus Schlesinger spazierte zu der Zeit einmal mit seiner Freundin Marie durch die Parkanlage des Bethanien, dabei bemerkte sie: „Es ist wie in der DDR, aber irrsinnig schön.“ Nachdem sie, an Kurt Mühlenhaupts Feuerwehrbrunnen vorbei, hinter dem Oranienplatz wieder „ins Restberlin“ eingetaucht sind, ist klar: „Kreuzberg ist wie eine Stadt in der Stadt.“
Vor der Loveparade erst noch die Dönerforschung
Hier tut sich in den achtziger Jahren aber noch einmal eine Kluft auf – zwischen Künstlern und „Streetfightern“ (Autonomen): Letztere versuchen, teilweise erfolgreich, einige „Schickimicki-Lokale“ im „Problembezirk“ mit Scheiße „wegzukübeln“, und zerstören daneben mehrere Kunstobjekte und Ausstellungen. Für diese „Kiezmiliz“ waren nicht mehr die Türken die Speerspitze der spekulativen „Gentrifizierung“, sondern die Künstler. Während die Türken mit ihren „Kulturvereinen“ inzwischen nach oben – in Läden – gezogen waren, hatten ironischerweise immer mehr Künstler ihre Installationsräume und Clubs in Kellern eingerichtet: die Galerie Eisenbahnstraße, das Endart-Depot und das Fischbüro seien genannt. Aus dem Keller des Letzteren trat 1989 die „Loveparade“ buchstäblich ans Tageslicht, kurz vorher veranstaltete das Fischbüro aber noch eine Reihe von Musikveranstaltungen im „Space-Center“, der „Krypta“ des Künstlerhauses Bethanien. Ein typischer Dialog am Fischbüro-Tresen ging so: „Machen wir noch eine Bierforschung oder gleich eine Nachhausegehforschung?“ – „Ich muss jetzt erst mal ’ne Dönerforschung machen!“
Ansonsten wurde Westberlin in den achtziger Jahren medial von der „Hausbesetzer“- und „Punkbewegung“ dominiert. Die „Insulanerin“ Jeanette Schirrmann, die als 13-Jährige nach Kreuzberg von der Mutter weg in ihr erstes besetztes Haus zog, erinnert sich, dass die älteren Genossen ihr vor dem Einschlafen RAF-Texte vorlasen. Mit der zunehmenden Zahl von „Häuserkämpfen“ wurde diese „Scene“ stilbildend. Die Europakorrespondentin des New Yorker gewann den Eindruck: „Früher war Kreuzberg düster und schmutzig. Dann aber war es düster und schmutzig – und hatte Flair.“ Aus solchen Berichten wurde spätestens nach den Straßenschlachten am 1. Mai 1987 – als das Viertel für einige Stunden „bullenfrei“ gekämpft war – der „Mythos Kreuzberg“, der schließlich nach Meinung seiner letzten Ethnografin, Barbara Lang, Pars pro Toto für Westberlin stand. Und dann 1990 endgültig fiel.
Aus dem am 1. Mai 1987 während der 750-Jahr-Feiern Berlins abgefackelten und geplünderten „Bolle“-Supermarkt am Görlitzer Bahnhof wurde ein Trümmergrundstück, auf dem die Punker und Fixer ihre überzähligen Ratten freiließen, und schließlich, nach der Wende, eine Moschee. Die ehemaligen Gentrifizierer des „Problembezirks“, Türken und Studenten, werden nun selber langsam weggentrifiziert – von jungen Touristen, die bleiben wollen, und von neuen Club- und Barbetreibern.
Die Zeit der vielen logischen Sekunden
Mit dem „Fall der Mauer“ 1989 war die Nachkriegsgeschichte Berlins zu Ende gegangen. Bleibt noch nachzutragen, was eine „logische Sekunde“ ist: der nur gedachte Zeitraum vor der Gültigkeit eines Rechtstitels im Falle eines Besitzerwechsels – so bei der Umwandlung von Volks- oder Staatseigentum in Privateigentum. Im neuen Berlin kam es zu Tausenden von „logischen Sekunden“. Absurderweise drehte jede die Uhr ein Stück rückwärts.
Viele hielten das nicht aus – in Ost und West: Sie gingen zurück nach Westdeutschland, ins Ausland, in die Türkei, aufs Land. Nicht selten waren das jene, die laut Kapielski im Malen immer eine Eins und im Rechnen eine Fünf gehabt hatten.
Die ehemaligen Neonazi-Rocker in der Waldemarstraße konnten ihre Stammkneipe, den „Jodelkeller“ in der Adalbertstraße, bis heute halten. Die Besitzerin, Leila, eine Palästinenserin, ließ ihn jedoch neulich renovieren, anschließend war er todschick – und die Rocker waren völlig entsetzt. Leila verteidigte sich: „Wir müssen mit der Zeit gehen. Ihr kommt doch auch nicht mehr mit dem Motorrad, sondern mit dem Rollator.“
■ Helmut Höge, 1947 in Bremen geboren, ist aktueller Ben-Witter-Preisträger und seit 1969 geübter Westberliner. Sein Credo: Rechnen ist nicht denken
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen