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Gutes Essen, böses Essen

Passt das zusammen: Genuss und Moral? Der Philosoph Harald Lemke versucht eine Antwort in seinem Buch „Ethik des Essens“

VON TILL EHRLICH

Es gibt Bücher, die heißen „Philosophie und Liebe“ und wollen erklären, wer wann was über die Liebe geschrieben hat. Da ahnt man schon, dass man über die Liebe als Phänomen der Hingabe und Leidenschaft, des Begehrens und Zusammenseins mit dem Anderen in so einem Werk nichts erfahren wird. So ähnlich ging es mir mit der jetzt erschienenen „Ethik des Essens“ des Hamburger Philosophen Harald Lemke. Ein schönes Thema, das mich sogleich an Liebe und Hingabe denken lässt und an die Hinfälligkeit des Genießens. Und ein Thema, das einen ins Staunen bringt darüber, wie nah Geschmack und Wertbildung zusammenliegen und wie mühsam es ist, eine eigene Spur im Dickicht der Sinn(lichkeits)versprechen zu finden, die auf der Sorge für sich und andere beruht. Doch das sind Harald Lemkes Anliegen nicht.

Vielmehr gewinnt man bei der Lektüre den Eindruck, dass es für das Essen einen „normativen Begriff des für alle Guten“ gibt und dafür „universalisierbare ernährungsethische Grundsätze“ formuliert werden sollten. Zunächst unternimmt Lemke eine „gastrosophische Abenteuerreise“ durch die Philosophiegeschichte – allerdings mit der alten Postkutsche der akademischen Philosophie – und staunt, wie viele Philosophen sich zum Essen geäußert haben. Er sieht zwei einander entgegengesetzte Theoriestränge im philosophischen Diskurs: Diätmoral und Gastrosophie. Im diätmoralischen Denken werde das Essen entweder moraltheoretisch als niedere Sinneslust ohne höheren Erkenntniswert abgewertet oder gleich ganz aus dem Bereich des Philosophierens in die Gesundheitssorge oder Theologie verbannt. Wichtigste Vertreter dieser normativen Richtung seien Platon, Aristoteles, Seneca, auch Jesus, Augustinus und Kant.

Demgegenüber nennt Lemke als Vordenker einer Gastrosophie Sokrates und Epikur. An ihre denkerische Tradition schließen Gracian, Rousseau, Feuerbach und Nietzsche an. Sie alle wenden sich in ihren Schriften gegen die Verteufelung oder Geringschätzung des Essens und räsonieren darüber, was zu einem „guten Essen“ als vernünftige Lebenspraxis zählt. Dabei werden Themen verhandelt, die auch den aktuellen Diskurs bestimmen: etwa das Problem des verantwortungsvollen Umgangs mit Tier und Umwelt oder die Bedeutung saisonaler und regionaler Produkte. Die Bedingungen eines gesunden Genusses werden im Zusammenhang mit Debatten um den Vegetarismus erörtert, und es wird darüber gestritten, was kulinarischer Sachverstand denn eigentlich sei.

Man erfährt, dass es bereits in der Antike Starköche gab und sich Kochschulen großer Beliebtheit erfreuten. Und wie sich die Debatten über die Kochstile durch Jahrhunderte hinzogen – beispielsweise die Konkurrenz zwischen dem „gleißenden Stil“ der Grand Cuisine und dem „anmutigen Stil“ der Nouvelle Cuisine in Frankreich. All das mündet in Lemkes eigenen gastrosophischen Entwurf einer „Kritischen Theorie des Essens“, der der Kritischen Theorie von Horkheimer, Adorno und Marcuse tapfer die Treue hält. Es geht Lemke um die Beseitigung des Welthungers, um Kritik an Naturbeherrschung, Umweltzerstörung und an einer entfesselten Kulturindustrie, die auf Massengeschmack setzt.

Er ist überzeugt, dass jeder Einzelne in den reichen Wohlstandsländern „das Richtige“ tun könne, indem er gut, also ökologisch orientiert einkauft, selbst kocht, und das Essen mindestens einmal am Tag mit jemandem teilt. Denn Genuss, der über die Sättigung hinausgeht, könne nur bei einem gemeinsamen Mahl entstehen. So plädiert er für eine „Revolution in der Alltagspraxis“. Essen sei eine welterzeugende und potenziell weltverbessernde Handlung. Zugleich gehöre das gute Essen als vernünftige Praxisform des guten Lebens in den Bereich der praktischen Philosophie. Schließlich fragt er, „warum es zu keiner Veränderung des Konsumkonformismus und zu keiner Verbesserung des Essens kommt, obwohl keiner dazu gezwungen ist, schlecht zu essen“. Doch eine Antwort wagt er nicht.

So kommt Lemke an die Grenze seiner moralisch fundierten Systematik. Dass es sich hierbei nicht um eine Ethik, sondern um ein Moralkonzept von kantischem Zuschnitt handelt, wird nun immer deutlicher. Lemkes Grundfrage lautet: „Wie müssten wir essen, damit sich alle Menschen gut ernähren können?“ Verwirrend ist, dass man nicht mehr weiß: Geht es hier nun um Essen als Ernährung, um Sättigung und Existenzsicherung? Oder um Esskultur und Geschmacksbildung? Lemkes striktes Festhalten an einer zweiwertigen Logik von richtig und falsch, gut und schlecht durchzieht, in Schachtelsätze verpackt, das gesamte Buch. Dabei werden moralphilosophische und theologische Begriffe willkürlich zusammengekocht.

Verwunderlich ist, dass Lemke die christliche Abendmahlszeremonie in ihrer Entwicklung ausführlich interpretiert, aber über jüdische Speisegesetze kein einziges Wort verliert. Ist nicht unsere verfeinerte Esskultur auch aus der festlichen Huldigung des Höheren zu verstehen, selbst wenn im katholischen Gottesdienst heute nur symbolisch gespeist wird und die jüdischen Speisen im engen Korsett der koscheren Gebote ihre Subtilitäten fanden?

Der Übergang vom Polytheismus der Antike zum Monotheismus war ein Wendepunkt in der Denkgeschichte. Der Monotheismus ist Grundlage eines moralischen Imperativs: Gottes Wunsch soll erfüllt werden. Sind also nicht auch die gesetzesorientierten imperativen Moraltheorien von der monotheistischen Idee des Einheitsmaßes geprägt? Sie findet sich wieder in dem Kant’schen Gedanken des sensus communis als gemeinschaftliches Geschmacksurteil, den Lemke zum „Grundgedanken einer gastrosophischen Ästhetik“ macht.

Aber Geschmack lässt sich nicht gemeinschaftlich aushandeln – die Geschmacksentwicklung ist ein mühsamer individueller Bildungsprozess. Es ist immer auch ein Kampf gegen Gier und Geschmackserwartungen. Isst man immer dasselbe, dann bildet sich nichts in einem weiter. Isst man immer nur das Beste, entsteht auch nichts Neues. Letztlich bildet das Unterschiedliche den Geschmack und die Fähigkeit, subtile Proportionen zu erkennen. Durch die Begegnung mit dem Anderen – und auch eine Speise kann ein Anderes sein – kommt man zu sich. Zu sich kommen heißt nicht sich selbst genießen. Je mehr geschmacksbildende Erfahrung man hat, desto eher kann man die eigene Verführbarkeit relativieren. Und so sich selbst auf die Schliche kommen.

Die Verführbarkeit der Masse im Massenkonsum ist daher auch eine Bildungsfrage, und man kann niemand zum Nachdenken und Innehalten zwingen, so wie man niemand vorschreiben kann, sich ethisch zu verhalten. Die Bildung des Geschmacks und der Urteilsfähigkeit als Wertebildung ist eine sehr eigensinnige Sache auf dem Boden individueller Sensibilität.

Geschmack und Genießen sind miteinander verbunden. Begehren aufgrund eines Mangels ist reine Bedürfnisbefriedigung. Doch in der Ethik wie im Genuss geht es darum, irgendwie aus der Bedürfnisbefriedigung herauszukommen. Statt Vorlieben und Gier zu unterdrücken wie in der Moral, kann Ethik die Triebe produktiv machen, indem sie sie in ein stimmiges Verhältnis bringt. Ethik ereignet sich nicht in guten und richtigen Taten, sondern zwischen dem Einen und dem Anderen: Wenn einer sich selbst und dem Anderen etwas gönnt. Ist Essen dann überhaupt eine Sache der praktischen Vernunft?

Geschmack ist schwer zu fassen, weil man beim Schmecken und Riechen völlig auf sich zurückgeworfen ist. Geschmack kann man weder messen noch wiegen noch kalkulieren. Das erklärt auch die Beliebigkeit der Rezeptbücher, die beispielsweise keine Antwort darauf geben können, wie viel Pilze man wirklich in ein Pilzgulasch geben muss, damit es gelingt. Das kann man nicht abwiegen, nur erspüren. Beim Kochen geht es um Feeling und Taktik – da kommen mehrwertige Logiken ins Spiel, wodurch immer wieder neue Verhältnisse entstehen. Und der Zufall mischt auch noch mit. Eine Prise Salz ist eben nicht das, was man abwiegt, sondern das, was man zwischen Daumen und Zeigefinger hat. Kochen ist ein Herantasten an die Immanenz des Essens. Erst dadurch kommt überhaupt die Notwendigkeit einer Ethik zum Tragen. Doch darüber kann man in Harald Lemkes versachlichter „Ethik des Essens“ nichts lesen. Leider.

Harald Lemke: „Ethik des Essens. Eine Einführung in die Gastrosophie“. Akademie Verlag, Berlin 2007, 486 Seiten, 39,80 Euro

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