„Dort“, nicht „damals“

Der israelische Schriftsteller David Grossman eröffnete am Dienstagabend das Internationale Literaturfestival Berlin

David Grossman ist ein Schriftsteller, der sich auch vor großem Publikum erstaunlich unprätentiös präsentieren kann. Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler hatte den israelischen Autor mit nüchterner Stimme, aber doch pathetischen Wendungen eingeführt: als Kämpfer gegen die „Militarisierung der Seelen“ im israelisch-palästinensischen Konflikt. Tatsächlich kann man gar nicht ziviler aussehen als David Grossman an diesem Dienstagabend im Haus der Berliner Festspiele. Locker geschnittene Hose, Pullover, zurückhaltende Gesten. So hielt er den Festvortrag. Dabei sprach er zunächst gar nicht von Israel und Palästina, sondern vom Holocaust. Und es war beeindruckend, was Grossman aus dem Unterschied machen konnte, ob man sich wie in Deutschland fragt, was „damals“ passiert sei, oder wie in Israel, was „dort“, in Deutschland, in Auschwitz, passiert sei.

„Dort“, nicht „damals“ – das bedeutet, dass der Holocaust weiterhin gegenwärtig ist. David Grossman erzählte von seiner Kindheit, davon, wie seine Eltern die Einzelheiten des Holocausts vor ihm zu verheimlichen suchten, weil das nichts für Kinder sei. Was aber nicht gelang, weil Kinder gerade in solchen Dingen sehr hellhörig sein können. Dann erzählte Grossman von seinen eigenen Versuchen als Vater, die Kindheit seiner Kinder zu beschützen, indem er ihnen die Details aus dem Holocaust erst einmal noch zu ersparen sucht. Was auch nicht gelang. Ganz nah bei sich, stets nachvollziehbar redete David Grossman in diesen Passagen – und die Wendung von der Entmilitarisierung der Seele hatte in ihnen ein Gesicht, einen Körper und eine Stimme.

So wurde also das diesjährige Internationale Literaturfestival Berlin eröffnet, diese chaotische (sagen die einen), wunderbar quirlige (sagen die anderen), auf jeden Fall unüberblickbar bunte Veranstaltungsreihe, die bis zum 16. September Literaturstars, Neuentdeckungen und Diese-Autoren-müssen-auch-aufs-Podium vorstellt. In der ersten Hälfte von Grossmans Vortrag hatte die Eröffnung ihre glanzvolle Viertelstunde. Vorher gab es das Übliche abzuarbeiten. Grußwort von Joachim Sartorius, dem Chef der Berliner Festspiele, unter deren Dach das Literaturfestival inzwischen firmiert. Grußwort von Bernd Neumann, Kulturstaatsminister, und André Schmitz, eigentlichem Berliner Kultursenator, auch wenn Bürgermeister Wowereit das Amt offiziell für sich selbst reklamiert. Schließlich noch Grußwort von Ulrich Schreiber, dem Chef des Festivals, inklusive Vorstellung aller Praktikanten – die sich schließlich als knappe Hundertschaft auf der Bühne drängelten. Wirklich interessant war das nur, wenn es ums Geld ging; ist ja oft so, wenn es fehlt. Vorschläge, das Festival nur alle zwei Jahre stattfinden zu lassen, waren im Vorfeld debattiert worden. Erleichtert konnte das Publikum aber den politischen Willen vernehmen, das Festival schon irgendwie versorgen zu wollen. Schließlich habe es Erfolg. Über die Details scheint man noch reden zu müssen.

Auch David Grossman konnte den Glanz nicht halten. Im zweiten Teil seines Vortrages schlug er den Bogen zur aktuellen Situation in Israel und Palästina, interpretierte vor allem aber das Tätersein, die Fähigkeit zum Auslöschen des fragilen Lebens Anderer, als Ausdruck eines entfremdeten Lebens und einer entfremdeten Sprache. Die Massenmedien arbeiten ihm zufolge dieser Entfremdung zu, während die Literatur eine individuelle Sprache und die Besonderheit jedes einzelnen Menschen ermögliche. Das war leider ziemlich kitschig. Viele besondere Autoren wird man aber doch in den nächsten Tagen auf dem Festival entdecken können. DIRK KNIPPHALS

Programm: www.literaturfestival.com