Schiffbruch mit tröstendem Zuschauer

SCHWINDELGESTALT Im Angesicht eines Löwen philosophieren: Sibylle Lewitscharoffs stilistisch brillanter Roman „Blumenberg“

Zu existenziell soll es also nicht werden, auch darin folgt Lewitscharoff dem Meister Blumenberg

VON ANDREA RÖDIG

Philosophen führen in der Regel äußerlich ereignisarme Leben. Geschehe etwas Dramatisches, ein Schiffbruch zum Beispiel, so klammere sich der Philosoph, Nichtschwimmer par excellence, ans Gebälk des zerschellten Schiffes, lasse sich ans Ufer auswerfen und setze „im nächstgelegenen Gymnasium seine Lehre fort, als sei nichts gewesen“. So sieht es Hans Blumenberg in seiner Studie „Die Sorge geht über den Fluss“, und er fügt hinzu: „Denn darauf kam es an: man war Philosoph im Maße der Immunität gegen solche Unterbrechungen.“

Die Beschreibung, die Blumenberg den Vertreten seiner Zunft zueignet, passt haargenau auch auf den Blumenberg, den die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff zur Hauptfigur ihres neuen Romans gemacht hat. Als dem nämlich, wir schreiben das Jahr 1982, nächtens in seinem Arbeitszimmer ein ausgewachsener Löwe erscheint, ist er zwar beeindruckt, aufgeregt auch, aber er lässt sich nicht aus der Fassung bringen. Blumenberg ist ein zugleich spielerischer und scheuer Philosoph, in ehrfürchtiger Neugier nähert er sich der Erscheinung. In der Folge wird der Löwe den Philosophen begleiten, er taucht auf und verschwindet, oft liegt er ruhig auf dem Teppich des Arbeitszimmers, er macht Mienen, aber keinen Mucks, er hinterlässt Gerüche, aber keine Spuren, er breitet sich aus, ist aber ohne feste Form. Berühren wird Blumenberg ihn nicht, er bleibt in jener Semidistanz des Staunens, das sich seinem Gegenstand nähert, ohne ihm zu nahe zu treten.

Die Geschichte von Blumenbergs Anfreundung, der Gewöhnung an die ihn begleitende und beglückende „Schwindelgestalt“, ist der eine Strang von Lewitscharoffs Erzählung. Weil aber die Selbstgenügsamkeit eines löwenbetrachtenden Philosophieprofessors niemals den Stoff eines Romans abgeben würde, entwickelt die Autorin als zweiten Strang die Schicksale von vier Blumenberg-Schülern. Und hier beginnt die Ungerechtigkeit. Denn während der gute Student Gerhard, die liebende Isa, der verrückte Hansi und der Aussteiger Richard immer um ihren Professor kreisen und mit ihren allesamt tödlichen Geschichten Bewegung in den Roman bringen, bemerkt Blumenberg seine Schüler kaum.

Richard „sah sich selbst als Wurm, der hinter dem Professor herkroch … und manchmal hob dieser Wurm … flehentlich das Köpfchen, bitte bitte, Herr Blumenberg, wollen der Professor mich doch bitte bemerken.“ In etlichen wie nebenbei erzählten Miniaturen, etwa dem Kapitel „Sonntag“, fasst Lewitscharoff bedrückend die Tristesse kleinstädtischen Studentenlebens und die gerade für das Fach Philosophie so typische einsame Selbstzerfleischung einer verehrenden Schülerschaft. Dass Isa sich von der Autobahnbrücke in den Tod stürzt, bekommt der versonnene Blumenberg nur als Verkehrsstau zu spüren, den Löwen hat er auf dem Rücksitz.

Pittoreske Redeflämmchen

Dieser Roman ist selbst eine „Schwindelgestalt“ und lässt sich nicht fassen. Nach korrekten Blumenbergzitaten werde man vergeblich suchen, schreibt Lewitscharoff im Nachwort. Sie webt vom echten Blumenberg dies und das ein, der ganze Text ist ein Verweisspiel und liest sich wie ein stilistisch brillantes Häkeldeckchen. Der Ton ist oft pittoresk, es wimmelt von „Ohrenscheibchen“, „Redeflämmchen“. Zu existenziell soll es also nicht werden, auch darin folgt Lewitscharoff dem Meister Blumenberg, der ja zu eindeutige Wünsche nach Wahrheit systematisch in einer barocken Gelehrsamkeit erstickte.

So kommt es, dass der Roman nur an vereinzelten Stellen ergreift und die Leserin sofort wieder loslässt, sie entlässt ins Geflecht wandernder Motive und rascher Tode. Zum Schluss löst sich die Handlung in einer burlesken, jenseitigen Szene auf; das gesamte Personal des Romans trifft sich nach dem Tod in einer luftig platonischen Höhle, in der ein Rebhuhn spricht und Blumenberg sogar seinen „gelehrten Auslegungsdrang“ verliert.

Wer ist der Löwe? Lewitscharoff beantwortet die Frage nicht, sie umkreist sie verspielt wie Blumenberg sein Tier. Der Löwe im Roman ist Alter Ego und Fleisch gewordene Metapher. Der Halbjude Blumenberg wird nachts von Vergangenem eingeholt, von Erinnerungen an Kränkungen, Schmähungen, seine ermordeten Tanten und an das Lager Zerbst. Damals besaß der junge Blumenberg eine Postkarte mit dem Bild des schlafenden Löwen von Christian Daniel Rauch und sagte sich immer wieder: „Wacht der Löwe auf, bin ich gerettet“. Jener Löwe, der dann spät in Blumenbergs Romanleben tritt, ist ein Wunder. „Er war dazu da, sein Vertrauen in die Welt, zumindest bei Nacht, zu festigen.“

Blumenberg liebt diesen Löwen, er wird ihm unentbehrlich. „Überfiel ihn die Angst jetzt, gab er sie ohne Hemmung an den Löwen weiter, der sie verstand und sogleich entschärfte.“ Der Löwe ist die alte Angst, die sich zum schützenden Gefährten transformiert. Es ist die vom Roman entwickelte schönste Trostgestalt. In ihm steckt mehr Wahrheit als in einer Philosophie, die vorgibt, man könne nach Schiffbruch weiterleben, „als sei nichts gewesen“.

Sibylle Lewitscharoff: „Blumenberg“. Suhrkamp, Berlin 2011, 216 Seiten, 21,90 Euro