Die Einsamkeit ist jetzt elektronisch

POP „Miscontinuum“ vom Mouse-on-Mars-Experimentalisten Jan St. Werner ist eine Zumutung, der man sich unbedingt stellen sollte

Die Elektronik nimmt nicht nur Einfluss auf die Musik, sondern auch auf die Zeit – und wie wir sie erfahren

Über uns, sagt die Stimme, seien Schritte zu hören. Ein Wind weht, oder ist es eine Dissonanz aus den Tiefen elektronischer Schaltkreise? Jede Stunde dauere nur einen Moment, behauptet die Stimme, die Erinnerung sei alles. Der Wind wird stärker, wechselt die Richtung, andere Stimmen erscheinen, zerhackt, diffus wie Geisterbilder, schemenhaft voller böser Vorahnung. „Passiert das wirklich?“, fragt die Stimme.

Keine zwei Minuten dauert das „Intro“ von „Miscontinuum“. Aber in diesen nicht mal zwei Minuten entwirft Jan St. Werner ein irritierendes, verstörendes, um nicht zu sagen: kirre machendes Szenario aus Klang und Erzählung, das ein Versprechen ist auf das sich anschließende Album. Ein Versprechen, das vollkommen eingelöst wird: In seiner Gänze ist „Miscontinuum“ eigentlich eine Zumutung.

Das ist allerdings auch keine Überraschung. Denn erstens ist Werner bislang vor allem bekannt geworden als eine Hälfte der auch nicht immer ganz leicht verdaulichen Mouse on Mars. Und zweitens ist „Miscontinuum“ schließlich ein Experiment: Eine „elektronische Oper“, die der Wahlberliner komponierte für die Reihe „Das asymmetrische Studio“ des Bayerischen Rundfunks und die im Juni 2013 im Kunsthaus München erstmals aufgeführt wurde. Da saßen die Musiker Kathy Alberici und Taigen Kawabe in einem sehr weißen Raum inmitten von Luftballons und durften Sätze sagen wie: „Die Einsamkeit ist jetzt elektronisch.“

Auf der Albumausgabe von „Miscontinuum“, die Ende der Woche nun erscheint, liest Dylan Carson eine englische Übersetzung des Librettos. Der ist hauptberuflich Sänger, Gitarrist und einziges ständiges Mitglied der Doom-Band Earth, die für ihre Höllenmalereien aus Gitarrenfeedback und Zeitlupenlärm berüchtigt ist, und ging in die Geschichte des Pop vor allem dadurch ein, dass er einem gewissen Kurt Cobain das Gewehr geliehen hatte, mit dem der sich ins Jenseits beförderte.

Dieser Subtext spielte wohl keine Rolle bei Werners Wahl, die Erzählpassagen von Carson lesen zu lassen. Eher schon verleiht seine ruhige, nahezu emotionslose Stimme dem Text eine bitter nötige, beiläufige Eleganz. Trägt das Libretto doch bisweilen schwer an seiner eigenen Gewichtigkeit. Geschrieben hat es Markus Popp, der selbst als Oval ein bekannter Vertreter der elektronischen Avantgarde ist und mit Werner schon früher als Microstoria zusammengearbeitet hat. Nun werden Sonnenflecken dressiert, Identitäten fixiert, Lebensformen kartografiert und Fragen gestellt: „Wie bin ich nicht ich selbst?“

So viel Bedeutung war selten, aber Werner zeigt, dass man solch einen Text ernst nehmen und ihn trotzdem zugleich infrage stellen kann. Der 45-jährige Wahlberliner, der seinen zweiten Vornamen Stephan am liebsten zum sakralen St. verkürzt, der schon des Öfteren für museale Zusammenhänge komponiert hat und seine Musik wie ein Philosophieprofessor zu erklären versteht, stellt Carsons Stimme in harschen Kontrast zu den hysterischen Sounds seiner Klangexkursionen. Die sind zwar akribisch durchgeplant, hören sich aber mitunter an wie zufällig aneinandergeklebte Schnipsel aus elektronischen Fehlsteuerungen und Gekreische, stolpernden Rhythmen oder stillstehendem Nichts. Kurz darauf folgen ruhige, pulsierende Meditationen mit sich überlagernden Stimmen, vielschichtigem Knacksen und an- und abschwellenden Soundflächen. Werner arbeitet viel mit Phasing, einem Verfahren aus der Minimal Music, bei dem mit Phasenverschiebungen experimentiert wird.

Hier, in den Klängen, wird sinnlich erfahrbar, was Popps Text nur krückenhaft beschreiben kann. Wie die Elektronik nicht nur Einfluss nimmt auf die Musik, sondern auf die Zeit, und wie wir sie erfahren. Wie die Erinnerung sich verändert, wenn die Zeit keinen streng linearen Charakter mehr kennt. Und wie in letzter Konsequenz diese Entwicklungen das Leben verändern. Wann das nicht mehr nur zu hören, sondern auch zu sehen ist, steht noch nicht fest, aber Aufführungen von „Miscontinuum“ in Berlin sind in Planung. THOMAS WINKLER

■ Jan St. Werner: „Miscontinuum“ (Thrill Jockey/Rough Trade)