: Kunst aus dem sozialen Dickdarm
Radikal statt versöhnlich: Die „Nouveau Réalistes“ schufen in den Sechzigern Kunst mit dem Ausschuss der Gesellschaft. In den Museumskanon wurden sie trotzdem aufgenommen. Das Sprengel Museum Hannover zeigt jetzt die wichtigsten Protagonisten
von TIM ACKERMANN
„Die einzigen Kunstwerke, die Amerika hervorgebracht hat, sind seine sanitären Anlagen und seine Brücken.“ Ein flotter Spruch, den der französische Künstler Marcel Duchamp da 1917 von sich gibt. Etwas vorschnell vielleicht – 26 Jahre bevor der Amerikaner Jackson Pollock expressiv auf die Leinwand kleckert und 45 Jahre bevor Andy Warhol mit seinen gedruckten Suppendosen erst die USA und dann die Welt erobert.
Doch immerhin hat Duchamps Bewunderung für die amerikanische Toilettentechnik ihren Ausdruck im vielleicht wichtigsten Kunstwerk dieses Jahrhunderts gefunden: Ebenfalls 1917 hebt er ein bescheidenes Pissoir auf einen Sockel und gibt dem Werk den Titel „Brunnen“. Das Alltagsleben zieht in die hohen Hallen der Kunst ein. An diesen einfachen aber revolutionären Trick Duchamps erinnert ein Kunstwerk, dass zurzeit im Sprengel Museum Hannover zu sehen ist. Mehr als vier Jahrzehnte nach der Erhebung des Pissoirs zum Kunstwerk reiste Daniel Spoerri durch Amerika und fotografierte auf seiner Reise jede Kloschüssel, die ihm unter den Allerwertesten kam. Vom Lokus im Hotel Drake, Philadelphia, bis zum Abort im Whitney Museum, New York.
Tatsächlich ist Spoerris Fotoserie eine erklärte „Hommage an Duchamp“. Denn man schreibt die 1960er – das Jahrzehnt, in dem das Leben mal wieder mit Macht in die Kunst zurück drängt. Die Malerei scheint mit Pollocks abstraktem Expressionismus und mit Barnett Newmans Farbfeldmalerei an ihrem ungegenständlichen Endpunkt angelangt. Lähmend. Da rufen einige junge Künstler den „Neuen Realismus“ aus – oder besser den „Nouveau Réalisme“, denn unter den Rufern sind die Franzosen in der Mehrzahl. „Nouveau Réalisme“ heißt auch die Ausstellung im Sprengel Museum, die die wichtigsten Protagonisten dieser Strömung versammelt und die zuvor im Centre Pompidou in Paris zu sehen war.
Es ist eine schöne Schau, die einen umfassenden Überblick über die Kunstrichtung bietet. Gleich am Anfang werden zwei wichtige Positionen vorgestellt: Da ist zum einen César, der mit einer typischen Skulptur eines geschrotteten Autos vertreten ist. Und da sind zum anderen die Affichisten um Raymond Hains und Jacques Villeglé, die durch die Stadt flanierten und zerfetzte Plakate, die ihnen ästhetisch interessant erschienen, von der Wand lösten. Ein urbanes „Ready-Made“, wie Jacques Villeglés „122, rue du Temple, 14. April 1965“ besteht aus übereinandergelagerten, zerrissenen Papierschichten und ähnelt einem halb-abstraktem Gemälde. Zum Beispiel einem der „Merzbilder“ des Hannoveraner Künstlers Kurt Schwitters. Das ist ein Grund, weshalb die Schau im Sprengel Museum gut aufgehoben ist. Ein zweiter ist die Tatsache, dass das Museum aus den eigenen Beständen nicht wenige der gezeigten Werke beigesteuert hat.
Auch wenn die „Nouveaux Réalistes“ häufig ausgestellt werden– es gibt immer wieder Momente, in denen ihrer Arbeiten dem Betrachter einen merkwürdigen Schauer über den Rücken jagt. Das liegt an dieser sonderbaren Aura der Authentizität, dem Gefühl, Artefakten vergangener Leben gegenüber zu treten. Im Gegensatz zur amerikanischen Pop-Art, die sich zeitgleich entwickelte und die mit den Strategien der Werbung das ewige Konsumversprechen auf der Leinwand festzuhalten suchte, arbeiteten die „Nouveaux Réalistes“ bevorzugt mit Gegenständen, die bereits konsumiert worden sind. Wenn Pop-Art im übertragen Sinne Kunst für die gierigen Münder der Gesellschaft ist, dann ist der „Nouveau Réalisme“ Kunst aus dem sozialen Dickdarm.
Diese Beschäftigung mit dem Ausschuss, dem Abfall, konnte kreativ-optimistische Formen annehmen, so wie bei Jean Tinguely, der aus traurigen Schrottteilen kinetische Plastiken schweißte. In Hannover kreiseln einige dieser Maschinen nun fröhlich und sinnfrei um sich selbst. Die künstlerische Arbeit konnte aber auch einen gewollt destruktiven Charakter annehmen wie etwa bei den frühen Arbeiten von Niki de Saint Phalle. Die Schweizer Künstlerin füllte ihre Assemblagen aus Plastikspielzeug mit Farbbeuteln und schoss dann auf die Bilder, so dass die bluteten. „Der Tod des Partriarchen“ heißt ihre wildeste Arbeit, die in der Ausstellung zu sehen ist. „Auf Wiedersehen, Daddy“, ruft die Künstlerin im dazugehörigen Performance-Video. Dann legt sie das Gewehr auf das Kunstwerk an und drückt ab. In den Sechzigern gehörte eben auch Papi zum Ausschuss.
Radikalität statt Versöhnlichkeit, das hat zum Gestus des „Nouveau Réalisme“ gehört: die blauen Körperabdrücke von Yves Klein, das verpackte Schaukelpferd von Christo, die zersägte Geige nebst Geigenkasten von Arman oder die Esstisch-Stillleben von Daniel Spoerri – all diese Werke haben zunächst das Publikum provoziert. Rund vier Dekaden nach der Blüte des neuen Realismus gehören die einstigen Wilden allerdings längst zum musealen Kanon.
Wie um das Verfallsdatum auch dieser künstlerischen Avantgarde zu demonstrieren hat sich eine kleine Skulptur von Dieter Roth in die Ausstellung eingeschlichen. Roth ist so eine Art widerborstiger Nachzügler der „Nouveaux Réalistes“. Er hat ein Selbstporträt von sich geschaffen und ihm einen Duchamp-artigen Zungenbrecher als Titel verpasst: „P.O.TH.AA.VFB“. Das bedeutet: „Portrait of the Artist as Vogelfutterbüste“. Die Skulptur besteht aus Vogelfutter und Schokolade und schimmelt seit 1969 in ihrer Glasvitrine vor sich hin. So eindeutig phantastisch – und irgendwie doch: so realistisch.
„Nouveau réalisme“ ist im Sprengel-Museum Hannover bis zum 27.1. 2008 zu sehen.
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