Kleines Glück durch Anpassung

Der Journalist David Ensikat will erklären, warum es die DDR überhaupt geben konnte. Tja, wenn man ein langatmiges Märchen lesen will, dann ist man bei ihm gut aufgehoben

Je länger das Ende der DDR zurückliegt, desto stärker wird offenbar auch der Wunsch, dieses Land auf den Begriff zu bringen. In „Kleines Land, große Mauer“ etwa versucht der Journalist David Ensikat zu erklären, warum es die DDR überhaupt gab und wie „die Leute“ in dem Land gelebt haben.

Für Ensikat, 1968 in Ostberlin geboren, ist die DDR schlicht das „Land der braven Leute“, bevölkert von Menschen, die selbstbewusst waren, zugleich jedoch auch eingeschüchtert, verhuscht und unfähig, sich zu entscheiden. Die 33 kurzen Kapitel sind ein Beispiel dafür, dass man die DDR zur Diktatur erklären und von ihrem Alltag erzählen kann, aber am Ende fast nichts für die historische Aufklärung geleistet hat.

Für eine solche Fehlleistung braucht man den Willen zu radikaler Trivialisierung und Stereotypisierung. Der Autor weiß: „Die DDR wollte ein besonders gerechtes Land sein, gerechter als die Bundesrepublik. Niemand sollte arm und niemand reich sein. Was sollte daran falsch sein?“

Doch: Es ist keine gute Idee, von „der DDR“ als historischem Subjekt zu reden, wenn man die Geschichte einer komplexen, differenzierten Gesellschaft schreiben will. Absurd ist es, ausgerechnet Gerechtigkeit als das zentrale Motiv für den deutschen Staatssozialismus zu unterstellen. Das weiß gewiss auch Ensikat, der selbst Geschichte studiert hat. Immerhin berichtet er auch, dass es nach 1945 ebenso um Macht, Herrschaft und um eine Gerechtigkeit im Sinne der deutschen und sowjetischen Kommunisten gegangen wäre, die freie und gerechte Wahlen nie erlaubten. Aber in seinen Häppchengeschichten werden viele wichtige historische Zusammenhänge ohne Not verkürzt und damit falsch dargestellt.

Vielleicht wollte der Autor auch gegen die pauschale Rede vom totalitären Unrechtsstaat anschreiben? In der Tat muss man der unter vielen Ostdeutschen wahrnehmbaren Ablehnung des Verdikts „Diktatur“ differenzierter begegnen als mit dem pauschalen Vorwurf revisionistischer „Schönfärberei“. Zumal wer dauernd vorgehalten bekommt, dass er in der Diktatur gelebt hat, kann das auch willkommen heißen als Rechtfertigung für eigenes bereitwilliges oder missmutiges Mitmachen, Wegsehen und Nichtweiterdenken.

Ensikat jedoch verschanzt sich hinter formelhaften Merksätzen, Anekdoten und Pappkameraden als Gewährsleuten, statt sich selbst ernst zu nehmen, mehr von eigenen Erfahrungen zu sprechen, historische Quellen zu nutzen und Leser mit konkreten Geschichten zu konfrontieren, die vorhandenes Wissen, Erinnerungen und Projektionen tatsächlich irritieren könnten.

Der von ihm skizzierte Realsozialismus gerät mit all seinen Stereotypen in starren Verhältnissen rasch zur albernen Groteske, die niemand braucht. Kluge, bissige, wirklich abgründige Satiren hat zum Beispiel der Schriftsteller Jakob Hein bereits vor sechs Jahren geschrieben. Bei Ensikat liest sich das hingegen so: „Es gab in der DDR Funktionäre und Oppositionelle, Mutige und Feige, Langweiler und Irrsinnige. Und Schwimmer und Nichtschwimmer gab es auch. […] Und wer nicht brav und gehorsam war, der bekam es mit dem strengen Staat zu tun, also mit der Volkspolizei und der Stasi. Es ging tatsächlich zu wie in einem riesengroßen Kinderheim.“ Mit solchen Verallgemeinerungen und im Detail eben auch falschen Behauptungen scheitert jede Aufklärung bereits im Ansatz. Dass die DDR eine dynamische Gesellschaft war mit Generationen, Schichten, spezifischen historischen Phasen, gegenläufigen und widersprüchlichen Erfahrungen, das bleibt weitgehend unerwähnt.

Das Buch wirkt wie ein Märchen, das der Opa seinen Kindern zum Einschlafen erzählt. Dabei lernt das müde Kind, dass in der Nazi-Diktatur allein Adolf Hitler, ein „Irrsinniger“, regierte. In der DDR hingegen regierte die SED, was die Sache ziemlich schlimm machte. „Die Deutschen“ wollten nach 1945 keine Diktatur mehr, sondern Demokratie. Aber die Ostdeutschen dienten bald meist brav der SED-Diktatur, denn auch dort erwies sich Anpassung als größte Tugend auf dem Weg zum kleinen Glück. Als immer mehr Leute weglaufen wollten, gab es „Stubenarrest fürs ganze Volk“ hinter der Mauer. Und so geht es weiter, bis zum „blassen König“ Honecker und dem Fall der „großen Mauer“.

Geändert haben sich die Ostdeutschen trotz dieser Erfahrungen nicht – davon ist der Journalist bereits im Vorwort überzeugt. „Die Menschen damals waren nicht anders als die Menschen heute. Es gab und gibt mutige und feige, sehr viele, die ein bequemes Leben haben wollen, und wenige, die für ein besseres Leben große Risiken eingehen.“ Sind Sie noch wach? AXEL DOSSMANN

David Ensikat: „Kleines Land, große Mauer. Die DDR für alle, die (nicht) dabei waren“. Piper Verlag, München 2007, 208 Seiten, 16,90 Euro