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Am Anfang war das Tamburin

DINGE Im roten Info-Container auf dem Kreuzberger Oranienplatz werden Objekte gesammelt, die Migrationsgeschichte erzählen. Viel ist noch nicht zusammengekommen

Was man bisher gesammelt habe, sagt Initiator Rainer Ohliger, sei nur ein „Fingerabdruck der Migrationsgeschichte“, die es noch umfangreicher zu erfassen gelte

VON CANSET ICPINAR

„Guck mal, das ist meine Mutter als Kind auf dem Arm von meinem Großvater“, sagt das Mädchen und zeigt auf eines der Fotos, die in dem knallroten Container auf dem Kreuzberger Oranienplatz ausgestellt sind. Kichernd erklärt die 13-Jährige Melisa ihrer Freundin, wer noch auf dem Bild zu sehen ist: „Hier ist meine Oma, das sind meine Tanten, mein großer Cousin und mein Schwager.“ Es handelt sich um eines der Familienporträts türkischer Gastarbeitern, die StudentInnen der Freien und der Humboldt-Universität für das Projekt „Route der Migration“ aus dem Kreuzberger Mathesie-Archiv herausgesucht hatten. Da die Namen der Personen auf den Fotos nicht bekannt waren, konnten sie auch nicht über die Ausstellung in Kenntnis gesetzt werden. Also kommt es nun zu Überraschungen: Teenager wie Melisa erkennen ihre Eltern bzw. bereits verstorbenen Großeltern wieder.

Bilder wie diese erinnern an die Einwanderung von Gastarbeitern seit den Sechzigerjahren. Doch Bilder sind nicht die einzigen Dokumente, die Migration bezeugen. Ein Koffer, ein Reisepass, vielleicht auch ein besticktes Kissen könnten Einwanderungsgeschichten erzählen. Um diese Geschichten zu erfassen, müssten aber erst einmal die dazugehörigen Gegenstände gesammelt werden. Deshalb hat die Initiative Netzwerk Migration eine dreitägige Sammelaktion auf dem Oranienplatz gestartet. Das Projekt „Meine Stadt – Meine Geschichte“ sammelt Bilder von Objekten, die über das Leben im Einwanderungsland Deutschland erzählen. Seit Mittwoch haben alle Berliner die Gelegenheit, Gegenstände, die sie mit der eigenen Migration verbinden, in den roten Container zu bringen. Dort werden sie fotografiert und sollen mit der dazugehörigen Geschichte auf der Website des Projekts veröffentlicht werden.

Am Mittwoch läuft die Aktion allerdings noch reichlich schleppend an. Er habe schon erwartet, dass sich nicht gleich bergeweise Gegenstände vor dem Container häufen, erklärt Rainer Ohliger vom Netzwerk Migration, der das Projekt initiiert und im vergangenen Jahr bereits in Stuttgart durchgeführt hat: „Die Menschen müssen erst dafür sensibilisiert werden, dass Alltagsgegenstände einen historischen Wert haben können.“

Nur ein Fingerabdruck

In Stuttgart, so Ohliger, habe man rund 90 Objekte fotografieren können, dazu sei man an Volkshochschulen und in Sprach-und Orientierungskursen gegangen. Dabei erreiche man in den sogenannten Integrationskursen keine Menschen der zweiten und dritten Generation, erklärt der Wissenschaftler, und schon gar keine Gastarbeiter der ersten Generation. Arbeitsmigration im klassischen Sinne existiere nicht mehr. Das, was man bisher gesammelt hat, sei nur ein „Fingerabdruck der Migrationsgeschichte“, die es noch umfangreicher zu erfassen gelte.

Der erste Gegenstand, der bei der Aktion am Oranienplatz abgegeben wird, ist dann weder ein Bild noch ein Reisepass. Es ist ein Tamburin. Die 49-jährige Margherita D’Amelio lebt seit 1988 in Berlin, bei ihrer Ankunft hatte sie das Instrument aus ihrer italienischen Heimat im Gepäck. Dabei habe sie früher gar kein Tamburin gespielt, erklärt die Tanzdozentin. Erst als die Sehnsucht nach ihrer Heimat größer wurde, fing sie damit an. Über das Instrument habe sie sich Italien verbunden gefühlt und zurück zu ihren Wurzeln gefunden. „Es ist nicht das schönste Tamburin, das ich besitze“, sagt die Künstlerin, „aber für mich ist es das wertvollste.“

■ Die Sammelaktion läuft noch bis heute 18 Uhr. Mehr Informationen auf www.migrationsgeschichte.de.

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