Lasst uns über Terror reden

PRÄVENTION Baden-Württemberg hat die Lehrer aufgefordert, mehr gegen religiöse Radikalisierung zu tun. Zwei Schülerinnen machen vor, wie es gehen kann

„Angst entsteht durch Unwissen“

TEUTA THAQI UND LENE STAUSS, SCHÜLERINNEN UND ORGANISATORINNEN EINES PROJEKTTAGS

AUS STUTTGART LENA MÜSSIGMANN

Die Attentate von Paris haben Lene Stauß, 18, geschockt. Und was ihre Mitschüler auf Facebook schrieben erst recht: Die CIA stecke eigentlich hinter den Ermordungen. Oder: „Alle Muslime raus.“ Lene, Schülerin am Johannes-Kepler-Gymnasium in Stuttgart, wollte reden. Sie musste reden. Am besten mit jemandem, der ihr die vielen Fragen beantworten konnte: Was hat das Attentat mit dem Islam zu tun? Was denken Muslime in ihrer Umgebung darüber? Kann es solche Anschläge in Deutschland geben?

Fragen, die viele Jugendliche beschäftigen. Die Schulen sollen darauf reagieren und etwas zur „Prävention von Radikalisierungstendenzen bei Schülerinnen und Schülern“ tun, hat der baden-württembergische Kultusminister Andreas Stoch (SPD) deshalb kurz nach den Attentaten in einem Brief an alle Schulleiter des Landes gefordert. Wie die Schulen das machen sollen, lässt das Ministerium offen. Lehrer sind nicht selten verunsichert und fühlen sich alleingelassen. Das Ministerium verweist auf Programme der Landeszentrale für politische Bildung (LpB) zur Radikalisierung – dabei geht es aber meist um rechte Gesinnung. Bei Lehrer-Schulungen vermittelt die LpB, wie das Thema Islamismus an der Schule thematisiert werden kann. Doch bis in den Klassenzimmern über Radikalisierung und Religion debattiert wird, dauert es.

Sind die Terroristen Muslime?

Lene und ihre Mitschülerin wollten nicht warten. Zusammen mit ihrem Geschichtslehrer organisieren sie einen Projekttag: „Sind die Terroristen Muslime? Muslime sind keine Terroristen.“ Am vergangenen Freitag, fünf Wochen nach den Attentaten von Paris, beschäftigt sich alle Schüler der Oberstufe mit diesem Thema. Einen Tag später wird ein 22-jähriger in Kopenhagen in einem Kulturcafé einen Filmemacher und vor einer Synagoge einen jüdischen Wachmann erschießen. Der Mann habe sich der Terrormiliz Islamischer Staat anschließen wollen, berichten Medien.

In den Tagen nach den Pariser Attentaten denkt Lene, die evangelisch getauft ist, über den Islam nach. Ihre Mitschülerin, Teuta Thaqi, 18, Muslimin, hatte sich doch mal im Unterricht klug und kritisch zu ihrer Religion geäußert. Lene ruft sie an.

Teuta Thaqi hat die Nachricht von den Anschlägen in Paris auf ihrem Smartphone gelesen. „Scheiße, schon wieder so was“, dachte sie. „Ich hatte Angst, dass ich wieder in so eine Schublade gesteckt werde: Muslim gleich Terrorist.“ Im Auto der Familie hängt ein Glückskoran als Talisman. „Meine Mutter wollte den abhängen“ – weil sie Aggressionen gegenüber Muslimen befürchtet habe. Teuta hält sie davon ab.

Am Telefon erzählen sich die beiden Mädchen all das. Sie reden über ihre Ängste und ihre Religionen. In einem sind sie sich einig: „Wir sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, die bunt ist“, sagt Teuta. „Das wollen wir nicht verlieren.“ Sie merken, dass es hilft, miteinander zu reden, weil das Verständnis schafft und Missverständnisse ausräumt. Dieses Erlebnis wollen sie teilen.

Schulleiter Christian Klemmer hatte nach den Pariser Anschlägen schon „das diffuse Gefühl, dass wir das aufgreifen müssen“. Aber wie? Und wie ausführlich? Nur T-Shirts mit dem Aufdruck „Je suis Charlie“ tragen? Vielleicht eine Gedenkminute einlegen? Das ging ihm nicht tief genug. Er unternimmt erst einmal nichts.

An einem Januar-Tag stehen Lene und Teuta in seinem Büro: Sie stellen ihre Idee vor: ein Projekttag, an dem der Austausch über religiös motivierten Extremismus in großem Rahmen stattfindet. Ein Tag, an dem ein Experte, der sich mit dem Islam auskennt, die Religion erklärt: welche Rolle der Frieden im Islam spielt, wie unterschiedlich man den Koran auslegen kann. „Angst entsteht durch Unwissen“, sagen Teuta und Lene. Schulleiter Klemmer ist begeistert.

540 Schüler besuchen das Stuttgarter Gymnasium, viele mit Migrationshintergrund und deutschem Pass. Ihre Wurzeln reichen in 27 verschiedene Nationen. Jeder fünfte bis sechste Schüler sei Muslim schätzt Klemmer. Die Religion sei kein Konfliktpotenzial an der Schule. „Das hat schon immer gut funktioniert“, sagt der Schulleiter.

Am Morgen des Projekttags sind sich Lene und Teuta da nicht so sicher. Sie sind aufgeregt, weil auch Schüler dabei sein werden, die sich auf Facebook wütend über die Attentate geäußert haben, bei denen große Emotionen im Spiel sind.

Mahmoud Abdallah vom Zentrum für Islamische Theologie in Tübingen geht auf die Bühne in der Sporthalle. Die Schüler sitzen auf dem Boden. Abdallah spricht auf einem hohen theoretischen Niveau, trotzdem hören alle Schüler zu. Er erklärt Stellen im Koran, die gewöhnlich von Islamisten herangezogen werden, um ihre Gewalttaten zu legitimieren, und entkräftet sie, indem er sie in ihren Kontext, in dem sie eigentlich stehen, rückt. Abdallah bezeichnet sich als Mainstream-Theologe, der versuche, einen Mittelweg des heutigen Islam aufzuzeigen. „Das Radikale kann keine Religion sein“, sagt er.

Erklären Sie doch mal, was Dschihad heißt

Abdallah beschreibt ein Dilemma, das auch die muslimischen Schüler am Johannes-Kepler-Gymnasium erleben: Anhänger eines radikalen Islam nähmen Geld in die Hand, um ihre Sicht der Dinge publik zu machen. Anhänger des moderaten, modernen Islam täte das nicht, so der Eindruck des Wissenschaftlers. „Die Schüler kriegen viel von dem radikalen Islam mit, das irritiert sie.“

Abdallah erhält immer öfter Anfragen von Schulen, die sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlen, allein mit ihren Schülern das Thema Islam zu behandeln. Mit einer Zusage schenkt Abdallah ein Stück seiner Freizeit her. Eigentlich sei es nicht seine Aufgabe, Vorträge an Schulen zu halten. Er ist Forscher und Unidozent. „Aber wer macht es, wenn ich es nicht mache?“

In der Turnhalle meldet sich Hasan, 18. „Können Sie den Leuten hier mal erklären, was Dschihad ist?“, fragt er Abdallah. Hasan ist Muslim, er weiß um die mannigfaltige Bedeutung des Begriffs Dschihad. Aber er wollte, dass seine Mitschüler auch mal hören, dass es dabei nicht immer um Krieg geht, erzählt er später. Sondern darum, seinen Glauben ins Leben zu tragen. „Damit die Leute das erfahren, sollte es so einen Vortrag an jeder Schule geben“, sagt Hasan.

Er hat nach den Anschlägen mit seinen muslimischen Freunden viel über radikalen Islamismus geredet. „Weil es uns betrifft. Wir fühlen uns provoziert, wenn es auf Heften wie dem Focus wieder heißt: ‚Die dunkle Seite des Islam‘. Ich fühle mich, als ob die versuchen, mich fertig zu machen.“ Weil alle Muslime über einen Kamm geschert würden. Dabei kennen Hasan und seine Freunde niemanden, „nicht im entferntesten“, der mit Islamisten sympathisiert.

Geschichtslehrer Tobias Krämer, der den Projekttag mit ausgearbeitet hat, zeichnet ein etwas kritischeres Bild von der Rolle, die islamische Religion an der Schule spielt. Es gebe Konvertiten unter den Schülern, die einen ausgesprochen konservativen Islam verträten. Auf dem Pausenhof habe er schon beobachtet, wie Missionierung betrieben werde, also wie vor allem Einzelgänger von überzeugten Konservativen angesprochen werden. „Gespräche über Religion sind okay, ich hoffe, dass da keine Radikalisierung stattfindet“, sagt er. Die Schule sei außerdem von vier Moscheen umgeben, von denen drei eher radikal seien, und eine sogar vom Verfassungsschutz beobachtet werde.

In der Turnhalle haben sich die Schüler nach dem Vortrag an Stehtischen verteilt, wo kleine Referate gehalten werden: zur Scharia, zu Verschwörungstheorien, zur Terrorgruppe Islamischer Staat. Zum Abschluss kommen sie wieder im Plenum zusammen.

Sollen Muslime sich zurückziehen?

Eine Schülerin stellt Abdallah eine Frage: Sollen wir Muslime beim Thema Islamismus auf Konfrontation gehen oder uns eher zurückziehen? Abdallah sagt, der Rückzug biete Platz für radikale Meinungen. „Ihr könnt sagen: Das kann nicht islamisch sein, weil ich andere Erfahrungen gemacht habe. Das ist anstrengend“, sagt er, „aber es lohnt sich.“

Dann wird die Turnhalle wieder leer, die Bühne abgebaut. Lene und Teuta sind begeistert von ihrem Projekttag. „Wir haben mit Kritik und Unverständnis gerechnet.“ Aber gerade einige der „speziellen Leute“, die sich im Netz nicht sehr differenziert geäußert hätten, seien aktiv bei der Sache gewesen. Das macht ihnen Hoffnung.

Und Mut. Die beiden Mädchen wollen weitere Veranstaltungen organisieren, vielleicht eine Diskussionsrunde mit Vertretern des Verfassungsschutzes. Sie wollen dranbleiben, damit das Interesse, über Religion zu diskutieren, nicht abflacht. Damit die Gesellschaft bunt bleibt.