AUSZUG AUS MEINER REDE ZUM 5. ÖSTERREICHISCHEN FILMPREIS
: Das Wissen der Bilder

Knapp überm Boulevard

VON ISOLDE CHARIM

Kennen sie „Ninotschka“? Paris 1939, drei sowjetische Genossen schwelgen im Luxus und vergessen darüber ihre Mission von der Weltrevolution. Ihnen wird eine Kommissarin nachgeschickt – Greta Garbo als Inbegriff revolutionärer Askese. Sie ist immun gegen den materiellen Genuss. Wo sie aber nicht widerstehen kann, wo ihre revolutionäre Tugend versagt, das ist der „höhere“ Genuss: die wahre Liebe. Die Liebe ist es, die sie „bekehrt“, ihren Asketismus besiegt.

Das ist eine Kalte-Kriegs-Erzählung von der Überlegenheit der westlichen Lebensform, die für alle Bedürfnisse etwas auf Lager hat. Tatsächlich war der Westen jahrzehntelang ein Sehnsuchtsort, das Versprechen von Glück und Genuss – für jene, die nicht darin lebten.

Eine markante Zäsur für die Vorherrschaft dieser Lebensform waren die „Schläfer“ von 9/11. Die Schläfer haben den Mythos vom Westen, den Mythos vom guten Leben als Allheilmittel nachhaltig infrage gestellt – einfach indem sie ihm widerstanden haben. Jahrelang haben diese im Westen gelebt, ohne dass der westliche Way of Life sie „korrumpiert“ und ihre „Mission“ gelöscht hätte. Heute sind es die Dschihadisten, die – immun gegen die westlichen Glücksvorstellungen – aus ihren Kinderzimmern aufbrechen, um in den „Heiligen Krieg“ zu ziehen. Ninotschka hat ausgedient. Die Verführungskraft des „Westens“ ist dahin. Das ist ein tiefer gehender Vorgang als das Scheitern von Integration im sozialtechnischen Sinn. Es ist das Verwerfen von dem, was für die Vorherrschaft des Westens zentral war. Es ist das Verwerfen seines Traums und der Verführungskraft seiner Glücksvorstellung.

Mit dieser Verwerfung wurde eine neue Demarkationslinie gezogen: ein „clash“ der Kulturen, der gar nichts mit jenem von Samuel Huntington zu tun hat. Huntington meinte, im „Kampf der Kulturen“ sei die Frage nicht mehr: Auf welcher Seite stehst du, sondern: Wer bist du?

Wir leben heute in einer akuten Situation. Und genau deshalb ist es so zentral, klarzumachen, wo die Demarkationslinie genau verläuft. Wo verläuft die Linie, die unsere Gesellschaften spaltet? Die neue Front (und eine solche ist es), diese Front verläuft nicht zwischen „dem“ Westen und „dem“ Islam. Sie verläuft nicht zwischen Kulturen. Auch nicht zwischen Religionen. Ja, sie verläuft nicht einmal zwischen Säkularen und Gläubigen. Sie trennt nicht Abendland und Morgenland.

Was uns trennt, ist vielmehr die Art, wie wir unsere Kulturen leben. Was uns trennt, ist die Art, wie wir unsere Identität bewohnen. Die Art, wie wir unsere Religion leben. Die Demarkationslinie verläuft entlang der Frage: Pluralismus oder nicht Pluralismus? Das ist die Kernfrage unserer Zeit.

Pluralismus ist keine Ansammlung von unterschiedlichen Kulturen und Religionen. Pluralisierung ist kein äußerliches Verhältnis.

Jede Identität steht heute neben anderen Identitäten. Jede Religion steht neben anderen Religionen. Oder neben Atheismus. Jeder weiß heute, dass seine Bestimmtheit nur eine Möglichkeit unter anderen ist. Die Frage ist: Leben wir unsere Religion plural – also im Wissen darum, dass sie nur eine Option unter anderen ist – oder leben wir sie nicht plural? Bewohnen wir unsere Identität offen oder bewohnen wir sie als geschlossene, als abgeschottete Identität? Die entscheidende Frage lautet also nicht: Wer bist du?, sondern: Wie stehst du zu dem, was du bist? Wie stehst du dazu, Deutscher, Türke oder Tschetschene zu sein? Wie lebst du dein Christentum, dein Judentum, wie lebst du deinen Islam oder deinen Atheismus?

Dieses Wissen um den anderen ist nicht rein rational. Es ist vielmehr ein emotionales „Wissen“. Deshalb wird dieses Wissen vor allem durch Bilder transportiert. Bilder sind das zentrale Medium in der Auseinandersetzung zwischen pluraler und anti-pluraler Welt. Deshalb sind all jene, die mit Bildern arbeiten, so gefordert. Sie alle stehen plötzlich an der Front. Sie alle stehen vor der Frage: Welche Bildpolitik betreiben wir? Welche Bilder produzieren wir – und welche nicht?

■  Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien