Die Überlebende

2006 wurde ihr Mann in London ermordet. Seitdem kämpfte Marina Litwinenko für eine öffentliche Untersuchung. Jetzt ist sie am Ziel. Die Hoffnung auf Aufklärung habe sie am Leben gehalten

■ Ab 1988 war er in der Abteilung für Spionageabwehr des sowjetischen Geheimdienstes KGB tätig. In verschiedenen Konfliktherden der Sowjetunion und später Russlands war er an Kampfeinsätzen beteiligt. Beim FSB, einer russischen Nachfolgeorganisation des sowjetischen KGB, war Litwinenko im Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität eingesetzt.

■ 1998 trat Litwinenko erstmals als Kritiker des russischen Machtapparates an die Öffentlichkeit: Auf einer Pressekonferenz in Moskau beschuldigte er – zusammen mit Michail Trepaschkin und einigen anderen maskierten Geheimdienstlern – die Führung des Geheimdienstes FSB der Anstiftung zum Mord. Sie hätten von dieser den Auftrag bekommen, den damaligen Sekretär des Staatssicherheitsrats, Boris Beresowski, zu töten.

AUS LONDON DANIEL ZYLBERSZTAJN

Sie war ein „gutes Sowjetkind“, sagt Marina Litwinenko über sich. An der Pionierjugend liebte sie jedoch weniger die Ideologie als das „Planen und Organisieren“. Das helfe ihr jetzt, nach frustrierenden Jahren des Wartens, in diesen Tagen, die so angefüllt sind. Seit Januar tagt der Untersuchungsausschuss, der klären soll, wer Litwinenkos Mann Alexander 2006 radioaktives Polonium-210 in den Tee mischte und ihn so tötete. Fast drei Jahre lang weigerte sich die britische Regierung, die gerichtliche Untersuchung durchzuführen. Marina Litwinenko musste das Innenministerium per Gericht auffordern lassen, diese Haltung zu überdenken. Die britische Regierung wollte den Fall wegen „internationaler diplomatischer Beziehungen“ am liebsten für immer ruhen lassen.

Überrascht hat das Marina Litwinenko nicht. Es gelte „Interessen zu schützen“, sagt sie auf Englisch, mit starkem russischem Akzent. Zu Lebzeiten ihres Mannes waren es die Investitionen begüteter Regierungsleute aus Russland in London – also jener, die ihr Mann zum Teil bloßstellte, die den Litwinenkos ein Gefühl der Sicherheit gaben. „Sascha“, so nennt sie ihren Mann, „glaubte, sie würden ihre Investitionen nicht mit irgendwelchen Attacken auf Gegner in London aufs Spiel setzten, denn Konten können schnell gesperrt werden.“

Seit Januar tagt nun der Ausschuss, endlich. Das anfängliche Warten der Briten habe die Aufklärung des Mordes an ihrem Mann komplizierter gemacht, sagt sie, wie überhaupt die Welt komplizierter geworden ist, jetzt, wo Russland in Konflikt mit Europa und der westlichen Welt steht.

An diesem Freitagnachmittag, der Ausschuss tagt heute nicht, sitzt sie in einem Londoner Museumscafé, gepflegt, modisch mit farblich aufeinander abgestimmter Bekleidung. Auf ein Getränk verzichtet sie, die Warteschlangen sind ihr zu lang, ihre Zeit ist jetzt kostbar. „Ich habe mich mental voll auf diese Phase vorbereitet“, sagt sie.

Mit seinen Enthüllungen über die russische Regierung und durch seine Ermordung ist Alexander Litwinenko ein Held dieser Zeit geworden, es wird derzeit sogar ein Film über ihn gedreht. Litwinenko ist stolz auf ihren Mann, der 1998 einer der Ersten war, der der Welt vor laufender Fernsehkamera erklärte, dass mit dem neuen Russland etwas nicht stimme. Er und zwei andere Agenten gaben damals eine Pressekonferenz, in der sie Namen von Personen preisgaben, die sie ermorden sollten, darunter den schwerreichen Kreml-Gegner Boris Beresowski. Litwinenko und seine Kollegen wurden nach der Presseerklärung sofort entlassen.

Soldat und Agent

„Mein Mann tat als Soldat und Agent des Nachrichtendienstes FSB, was er tun musste, solange es legal war“, sagt seine Frau heute. Doch das wurde immer schwieriger. Erst musste er bei seinem Einsatz in Tschetschenien feststellen, dass das Land nicht voller Terroristen war, wie man ihn in Moskau gewarnt hatte. Vielmehr war Litwinenko später der Meinung, dass Russland oft selber hinter Terrorakten steckte. Später stellte er fest, dass seine Ermittlungen gegen das organisierte Verbrechen nicht weitergingen, weil von den obersten Etagen Drähte gezogen wurden.

Im Juli 1998, vier Monate vor der entlarvenden Pressekonferenz, wird Wladimir Putin Chef des Geheimdienstes FSB und damit Litwinenkos Direktor. Litwinenko schlägt ihm vor, die Korruption im Nachrichtendienst zu bekämpfen. Putin, so berichtet es Litwinenko später, verweigert sich seinen Vorschlägen. Es kommt zum Konflikt zwischen den beiden Männern. Marina Litwinenko erinnert sich gut an diese Zeit, in der sie ihren Mann oft nachdenklich und verschlossen erlebte, ohne genau zu wissen, was ihn plagte. Im November geht Litwinenko an die Öffentlichkeit. Nach dem Fernsehauftritt versucht der Kreml ihn gleich zweimal hintereinander hinter Gitter zu bringen, scheitert aber am neuen Rechtssystem, das nach konkreten Beweisen verlangt.

Trotzdem ist er insgesamt fast ein Jahr in U-Haft, Marina Litwinenko sieht ihn etwa einmal pro Monat. Bevor der Kreml ein drittes Mal versuchen kann, Litwinenko zu verurteilen, bereitet dieser im Jahr 2000 seine Flucht aus Russland vor – entgegen seinem ausdrücklichen Reiseverbot. Seine Frau Marina und seinen Sohn Anatoly, damals sechs Jahre alt, schickt er ohne, dass beide etwas ahnen, in den Urlaub nach Spanien. Einige Tage später trifft sich die Familie in der Türkei und beschließt, in Großbritannien politisches Asyl zu beantragen.

Hier bauen Marina und Alexander Litwinenko ein neues Leben auf, fühlen sich sicher: „Wir witzelten, dass wir auf einer Insel sind und geschützt von der Königin.“ Doch ihr neues Leben ist nicht ohne Beziehung zur Vergangenheit. Marina arbeitet als Tanzlehrerin, so hat sich die graduierte Öl-und Gastechnikwissenschaftlerin schon in Moskau Geld verdient. Alexander hingegen verfasst ein Buch über organisiertes Verbrechen in Russland, er wird Berater des britischen Nachrichtendienstes MI5 und schreibt für eine tschetschenische Exilantenzeitung.

Gleichsam nebenbei greift er immer wieder öffentlich die russische Regierung an. Zwei Wochen vor seiner eigenen Ermordung behauptet er, dass die Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja am 7. Oktober 2006 in Moskau vom Präsidenten Russlands angeordnet wurde.

Die Polonium-Spur führt nach Hamburg

Das sei „alles nicht so schlimm gewesen, dass man meinem Mann hierfür das Leben nehmen musste“, sagt Marina Litwinenko. Von dem öffentlichen Untersuchungsausschuss erhofft sie sich Fakten. Ihr Mann wurde oft dafür kritisiert, dass er genau die nicht brachte, seine Anschuldigungen nicht untermauerte. Es gilt als sicher, mit wem sich Litwinenko am Tag seiner Vergiftung traf. Bei dem Täter soll es sich nach Berichten britischer Zeitungen um Andrei Lugowoi handeln, einen ehemaligen KGB-Agenten und heutigen Geschäftsmann und Politiker, den Litwinenko offenbar kannte.

„Wir witzelten, dass wir auf der Insel geschützt sind von der Königin“

MARINA LITWINENKO

Die Spur der radioaktiven Substanz, die ihn tötete, zieht sich durch ganz London und bis nach Hamburg. Seine Frau aber will keine Vermutungen. „Ich will mit Gewissheit sagen können, wie es zum Tod Saschas kam, und nicht irgendwas glauben müssen“, sagt sie. Und noch etwas will sie nicht: „Entschuldigungen aus Russland erwarte ich nicht und brauche ich auch nicht.“

Dass sie nach der Ermordung ihres Mannes „nicht verrückt geworden“ sei, habe sie ihren Freunden in London zu verdanken, aber auch den Bedürfnissen ihres Sohnes. Der soll, trotz allem, so normal wie möglich aufwachsen. Das fokussierte ihr Leben. Dass ihr inzwischen bald 21 Jahre alter Sohn in London ausgerechnet ein Politikstudium mit Schwerpunkt Osteuropa begonnen hat, war nicht nach ihrem Geschmack. „Es ist aber einer gute Uni, vielleicht hilft ihm das später mit anderen Sachen“, sagt sie.

Der zweite Fokus ihres Lebens war die Kampagne für die Aufklärung des Todes ihres Mannes. Mit der Hilfe zweier Dissidenten gründete sie einen Hilfsfonds: Alexander Goldfarb und der 2013 in Ascot unter unklaren Umständen gestorbene Milliardär Boris Beresowski – jener Mann, den Litwinenko nach eigener Aussage einst im Auftrag des FSB ermorden sollte, der aber später, im Exil, sein Arbeitgeber und Freund wurde.

Die Aussicht auf eine Untersuchung macht Marina Litwinenko so viel Mut, dass sie sich wieder ein neues Leben vorstellen kann. Wenn der Ausschuss seine Arbeit beendet hat, will Litwinenko in der PR-Branche arbeiten, vielleicht als Kommunikationsberaterin. Sie denkt eher als Geschäftsfrau anstatt als Lobbyistin.

Und trotzdem: Im Leben nach dem Mord an Sascha bleiben Herausforderungen, bei denen ihr auch die Untersuchung nicht weiterhelfen kann. Seit ihrer Flucht kann die 52-Jährige ihre greisen Eltern in Moskau nicht mehr besuchen. Das ist für die besonders hart, denn weitere Kinder haben sie nicht. Drei Jahre ist es her, dass sie beide bei einem Treffen in Kiew sehen konnte. Ihr Sohn kann auch die Großeltern väterlicherseits nicht sehen: Alexander Litwinenkos Vater Walter hat seinen Sohn einen „Verräter“ genannt und den Kontakt zu Marina und dem Enkel abgebrochen. Trotz allem empfindet sie keinen Hass auf alle, die ihre Lage zu verantworten haben. „Hass zerstört“, sagt sie.

Nach den Jahren im Exil sei London ihre Heimat. Kurz vor seinem Tod nahmen Alexander Litwinenko und sie die britische Staatsangehörigkeit an. „Mein Lieblingsplatz ist die Freiheit und die Chance, hier zu sagen und zu tun, was ich will“, sagt sie. „Leider haben die Menschen in Russland dies noch nicht.“ Doch irgendwann einmal werden sich die Dinge auch dort ändern, glaubt sie, „auch Sascha glaubte dies“. Auch für diese Hoffnung stehe der Fall ihres Mannes.