Auf dem Weg zu einer muslimischen Caritas

INTEGRATION Viele Einwanderer haben das Bedürfnis nach spezifischen Angeboten wie „kultursensibler Altenpflege“. Regierung und Verbände denken deshalb über einen islamischen Wohlfahrtsverband nach. In Niedersachsen beginnt jetzt ein erstes Modellprojekt

Bei Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen vorne, bei Reha-Kuren hinten: die Migranten

VON ALINA LEIMBACH

Als vor einigen Jahren in Berlin das erste Altenheim eröffnete, das sich ganz auf türkischstämmige Seniorinnen und Senioren spezialisiert hat, war das Medienecho riesig. Pflegeangebote, die auf die Ansprüche der ehemaligen Gastarbeitergeneration zugeschnitten sind, sind immer noch ein Novum. Dabei wächst die Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund, die in Rente gehen und sich wünschen, dass Altenheime und Seniorenstifte auf ihre religiösen und kulturellen Bedürfnisse eingehen. Bis 2030 werde ihre Zahl von 1,6 Millionen auf 2,8 Millionen steigen, rechnete die Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz (SPD) Anfang der Woche auf einer Tagung im Kanzleramt vor.

Die Tagung bildete den Auftakt zum Schwerpunktjahr „Gesundheit und Pflege in der Einwanderungsgesellschaft“. Denn die Bundesregierung hat sich vorgenommen, die Gesundheitsversorgung von Einwanderern insgesamt zu verbessern. Zwar würden bei Zuwanderern statistisch mehr Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle registriert, rechnete Özoguz auf der Tagung vor, sie nähmen aber seltener professionelle Hilfe wie Vorsorgeangebote oder Reha-Kuren in Anspruch als der Durchschnitt der Bevölkerung.

„Kultursensible Pflege“ ist ein weiteres Feld, auf dem Özoguz einen wachsenden Bedarf sieht. Auch die deutschen Wohlfahrtsverbände haben das Thema heute für sich entdeckt. „Das ist uns ein echtes Anliegen“, betont Caritas-Sprecherin Claudia Beck. Doch ob es in Heimen kultursensible Pflege gibt, hänge oftmals auch vom Dienstplan ab, davon, wer gerade eingeteilt ist und wer wann Zeit habe. „Garantieren können wir nicht immer, dass auf spezielle Bedürfnisse Rücksicht genommen werden kann, auch wenn wir alles versuchen.“

Insbesondere viele Muslime hegen deshalb den Wunsch nach einem eigenen Wohlfahrtsverband, einer muslimischen Caritas. Emine Oguz, die im Vorstand der türkischen Ditib-Gemeinde in Niedersachsen sitzt, meint, dass sich die Lebensstile vieler Einwanderer verändert hätten: „Weil heute viele Menschen und gerade auch Frauen arbeiten gehen, gibt es einen ganz neuen Bedarf an Pflege für alte Muslime.“

Auch Samy Charchira, der im nordrhein-westfälischen Landesvorstand des Paritätischen Wohlfahrtsverbands sitzt, erwartet sich viel von einen muslimischen Wohlfahrtsverband. Würden islamischen Gemeinden in Zukunft verstärkt soziale Dienstleistungen anbieten, würde sich ihr Image unter Nichtmuslimen positiv ändern, ist er überzeugt. Und: Dort, wo muslimische Jugendarbeit angeboten werde, hätten Extremisten weniger Chancen, sie für eigene Zwecke anzuwerben, glaubt er.

Auch die Deutsche Islamkonferenz hat sich unter der Ägide von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) für 2015 dem Thema Wohlfahrt verschrieben. Zwar wurde das letzte Treffen im Januar von den Terroranschlägen in Paris überschattet, doch was den Wunsch nach einem muslimischen Wohlfahrtsverband angeht, herrschte unter den Teilnehmern große Einigkeit: Die Islamverbände, Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) und der Städtetagspräsident, Nürnbergs Bürgermeister Ulrich Maly (SPD), sprachen sich dafür aus.

Dass sich gerade der Städtetag hinter die Idee stellt, freut Samy Charchira besonders. Denn Wohlfahrtsverbände sind in Deutschland aus historischen Gründen subsidiär organisiert – das heißt, sie setzen auf der kommunalen Ebene an. Hier jedoch herrscht bislang oft noch der größte Widerstand. „Wenn irgendwo ein muslimischer Kindergarten eröffnet werden soll, spürt man vor Ort häufig noch viele Vorbehalte“, weiß Charchira. Die Unterstützung der Bundesregierung könnte das ändern.

Doch um einen gemeinsamen Wohlfahrtsverband zu gründen, müssten sich die bestehenden Islamverbände zusammentun. Das allerdings ist gar nicht so einfach. Dabei gibt es auf regionaler Ebene schon einige muslimische Projekte der Wohlfahrtspflege. Diese sind jedoch kaum koordiniert, und weil sie zumeist ehrenamtlich getragen werden, können sie den Bedarf nicht im nötigen Umfang abdecken, meint Charchira.

In zwei Wochen gibt es in Niedersachen aber schon mal eine Premiere zu feiern. Der Trägerverein Compass, im vergangenen Jahr gegründet, wird dort den ersten landesweiten muslimischen Wohlfahrtsverband anmelden. Sein erstes Projekt wird ein islamischer Kindergarten sein. „Ich möchte mein Kind gerne meinem Glauben entsprechend erziehen lassen“, erklärt Emine Oguz ihre Motivation, und schwärmt: „Die Zusammenarbeit hier in Niedersachsen ist super.“ Bislang ist sie die einzige hauptamtliche Mitarbeiterin. Aber sie ist fest davon überzeugt, dass ihr Verband auch anderen Bundesländern ein Beispiel geben kann.

Kenan Kolat, der ehemalige Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, hat sich indes für einen anderen Weg entschieden. Gemeinsam mit elf weiteren Verbänden, darunter spanischen, russischen und polnischen Migrantenorgansiationen, gründete die Türkische Gemeinde im vergangenen Jahr einen Verband für interkulturelle Wohlfahrtspflege, Empowerment und Diversity (VIW). „Wir sind die säkulare Seite interkultureller Wohlfahrtspflege“, betont Kolat, der als Sprecher des VIW auftritt. „Wir wollen das Engagement und die Sichtbarkeit von Menschen mit Migrationsgeschichte stärken“, erklärt Kolat, und Angebote der Wohlfahrtspflege stärker auf die Bedürfnisse der migrantischen Bevölkerung zuschneiden. Als Konkurrenz zu einem etwaigen neuen muslimischen Wohlfahrtsverband will er das aber nicht sehen.