Blut kann schon mal fließen

KRACH Joke Lanz macht als Sudden Infant seit 25 Jahren extreme Musik und Performance-Kunst. Davon kann er sogar leben. Jetzt wird er 50 Jahre alt

VON ANDREAS HARTMANN

Joke Lanz bittet in seine Wohnung in Prenzlauer Berg in einem der letzten unsanierten Häuser in der Gegend. Ein paar Platten stehen im Schlafzimmer herum, sehr viele Cassetten stapeln sich im Wohnzimmer und vor dem Fenster hoffen jede Menge Pflanzen auf etwas Frühlingssonne. Aus dem Laptop erklingt Insektensummen, Musik von Chris Watson, einer Postpunk-Ikone, der heute Musik aus Naturaufnahmen macht.

Auf dem Cover seiner aktuellen Platte „Wölfli’s Nightmare“ blickt derselbe Joke Lanz, der nun völlig entspannt über sich, seine Arbeit und besagten Chris Watson redet und dabei durchaus auch mal freundlich lächelt, einen mit einem manischen Serienmörderblick an, und auf dem Umschlag eines vor ein paar Jahren erschienen Buchs über seine künstlerische Arbeit sieht er aus wie Klaus Kinski als Nosferatu, nur noch furchteinflößender. Doch jenseits seiner Kunst ist Joke Lanz ein ziemlich angenehmer und verhaltensunauffälliger Zeitgenosse. Er ist humorvoll, höflich und außerdem auch noch durchaus gutaussehend für seine 50 Jahre, die er jetzt wird.

Nackt auf der Bühne

Der Jubiliar wird auch feiern, dass er nun seit ziemlich genau 25 Jahren unter seinem Alias Sudden Infant Musik macht und Platten veröffentlicht. Hauptberuflich. Und das als Noiseerzeuger, Krachmacher und komplett unabhängig von gängigen Musikindustriestrukturen. Das muss man so auch erst einmal hinbekommen. In seiner Szene, der des sogenannten Post-Industrial, veröffentlicht man bis heute gerne CD-Rs oder Tapes, in seinem Fall in Auflagen von oft nicht mehr als 50 Stück.

Dadurch entstehen hübsche Sammlerstücke wie dieses Tape in einer zerdrückten Blechbüchse, das Joke Lanz aus einer Ecke seines Wohnzimmers hervorkramt, aber das Produzieren obskurer Sammlerstücke allein reicht zum Leben nicht. Früher hat Lanz deswegen diverse Jobs nebenbei gehabt, er hat beispielsweise als Müllmann, Nachtwächter und Fahrradkurier gearbeitet. Jetzt lebt er von den Konzerten, die er weltweit gibt, sogar in Japan, und nicht selten gefördert von Kulturförderprogrammen seiner ursprünglichen Heimat, der Schweiz. Trotzdem, so sagt er, lebe er von alldem bis heute „mehr schlecht als recht.“

Dabei läuft es derzeit verhältnismäßig gut für ihn. Er ist schon eine Weile als Vor-Act der englischen Sleaford Mods unterwegs in Europa. Die Sleaford Mods haben mit ihren Gossenraps über Alkoholismus und andere Formen der Beschissenheit menschlicher Existenz einen Nerv bei Hipstern getroffen und sind gerade ein Riesen-Hype. Sudden Infant vor dieser Band ist dementsprechend ein wenig so, als würden Slayer im Vorprogramm von Radiohead auftreten.

Die Musik von Sudden Infant ist laut, aggressiv und verstörend. Einflüsse kommen aus Punk und Industrial genauso wie von Dadaismus und den Wiener Aktionisten, Hermann Nitsch oder Rudolf Schwarzkogler und der Performance-Kunst von Marina Abramovic oder Valie Export. Joke Lanz hat lange in Zürich gelebt, der Geburtsstadt des Dadaismus, das habe ihn geprägt, sagt er. Zudem ist er nicht nur Elektronikmusiker und Sänger, sondern ein Performance-Artist, der oft näher bei der Kunst als bei der Popmusik ist.

In Berlin kaum bekannt

Blättert man „Noise in my head“ durch, eine Art Kunstkatalog über 25 Jahre Sudden Infant, sieht man Joke Lanz oft nackt auf der Bühne, mit Farbe bespritzt, den eigenen Körper permanent im Namen seiner eigenen Kunst einsetzend. Ein wiederkehrendes Element seiner Performances ist das Schlagen eines Mikros an die eigene Stirn. Ununterbrochen. Dabei kann schon mal ein wenig Blut fließen.

Irgendwann stellt Joke Lanz zwei Stücke Donauwelle auf den Tisch. Er ist in bester Plauderlaune, erzählt von seiner Leidenschaft für Jacques Brel und Roxy Music und wie es für ihn war, als sich sein Vater vor bald 40 Jahren erschossen hat und wie dieser Selbstmord seine Kunst bis heute prägt. Der Kuchen komme von einem der vielen Bäcker rund um den Kollwitzplatz, wo Westbam immer in einem der schicken Cafés rumhocke, sagt er. Westbam ist ungefähr so alt wie Joke Lanz und entstammt einer ähnlichen Musikkultur, der des Postpunk. Doch während der eine von dort zur Loveparade wechselte und Millionär wurde, blieb der andere Außenseiter. Er wurde Teil des Performance-Netzwerks Schimpfluch rund um den Schweizer Extremkünstler Rudolf Eb.er und entwickelte sich zu einem der weltweit profiliertesten Vertreter seiner Zunft.

Er wird in England, den USA und Japan geschätzt. In seiner aktuellen Heimat jedoch, in Berlin, kennt ihn kaum jemand. Vor allem in den USA und in Ansätzen auch in England wird eine junge Generation von Noisemusikern wie Lasse Marhaug, John Wiese oder Wolf Eyes auch von Hipstern geschätzt, von Jazzmusikern für Klangexperimente eingeladen oder vom englischen Avantgarde-Blatt Wire gefeiert. Krach ist in manchen dieser Auskennerkreise der neue Mainstream. „Auch Musiker wie Björk und ein paar HipHopper bedienen sich inzwischen teilweise komischer und brutaler Sounds“, so Lanz, „auch dadurch bekommt Noise plötzlich mehr Aufmerksamkeit.“ Und Joke Lanz, inzwischen Veteran der Szene, zumindest außerhalb Berlins ebenfalls.

Dabei hat er sich auf seiner aktuellen Platte vom Industrial und von den Power Electronics früherer Tage, von elektronischen Störgeräuschen und schmerzhaftem Synthesizerrauschen fortbewegt wie nie in seiner Karriere. Er bildet nun gemeinsam mit einem Bassisten und einem Schlagzeuger beinahe eine amtliche Rockband. Es gibt richtige Songs, Refrains und Gesang von Joke Lanz. Doch diese vermeintliche Altersmilde ist natürlich nur relativ. Er klingt nun einfach nur eher nach den Swans als nach Whitehouse. Also letztlich immer noch verdammt kaputt.

■ 50 Jahre Joke Lanz, 5. April, 20 Uhr, Roter Salon