: Groß genug für alle
IDENTITÄT STIFTEN In der „Zukunftswerkstatt Romanistan“ suchten Künstler und Wissenenschaftler nach einer neuen Form der Gemeinschaft der Roma
Kurz vor Weihnachten fand die erste „Zukunftswerkstatt Romanistan“ in Rroma Aether Klub Theater in Berlin-Neukölln statt: „Romanistan – Traum oder Albtraum. Roma auf dem Weg zur anerkannten Community in Berlin?“. Zusammen mit Gaby Sohl von der taz hat Hamze Bytyci das Konzept erarbeitet. „Roma heißt Menschen“ sagt er, und so will er seinen Traum von Romanistan auch als Wunsch nach einem gemeinsamen geschützten Ort verstanden wissen.
Bytyci, Schauspieler und Sozialarbeiter, kennt alle Klischees und Vorurteile, mit denen sich Roma konfrontiert sehen. Seit Jahren engagiert er sich mit dem Verein Amaro Drom für die Entwicklung einer selbstbestimmten Roma-Identität. Und er weiß auch, dass die meisten Roma, die gesellschaftliche Anerkennung anstreben, ihren sozialen Hintergrund unterschlagen. Mit dem Stigma „Zigeuner“ ist man in Europa nach wie vor Außenseiter.
Eigentlich sollte Europa groß genug für alle Europäer sein, doch die Integration der Roma scheitert nach wie vor an massiven Vorurteilen und Ressentiments. Auch untereinander fehlt es vielen Roma an Zusammengehörigkeit, denn die Roma gibt es nicht. Sie sind Versprengte aus den verschiedensten Ländern, deren Gemeinsamkeit aus Ablehnung und Ausgrenzungserfahrung besteht.
Wie baut man aber eine Gemeinschaft auf, der identitätsstiftende Attribute wie eine gemeinsame Religion, Ethnie, Nationalität oder Sprache fehlen? Zwar hat man sich schon 1971 auf die Bezeichnung „Roma“ für alle Teilgruppen geeinigt, trotzdem gibt es einen „deutschen Sonderweg“. Der Doppelbegriff „Sinti und Roma“ unterscheidet explizit zwischen den Sinti, die schon vor 600 Jahren in Deutschland sesshaft geworden sind, und den Roma, die später kamen: vor etwa 200 Jahren die sogenannten Burgenland-Roma, vor 60 Jahren Gastarbeiter und schließlich in den 1990er Jahren die Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien.
Angenommen im Kiez
Auch gegen solche Unterteilungen richtet sich das Konzept der ersten Zukunftswerkstatt. Eine junge Generation von Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen diskutierte die Rolle der Roma in den europäischen Gesellschaften. Wie Slavica Markovic vom Rroma Theater. Als er das Rroma Aether Klub Theater vor fünf Jahren in Neukölln eröffnete, waren die Nachbarn wenig begeistert, dass ausgerechnet „Zigeuner“ den Laden übernehmen mussten.
Heute ist das Theater mit Café längst etabliert im Kiez. Zusammen mit Tina Asimovic präsentierte Markovic die Idee von einem Roma-Haus in Berlin – Platz für regelmäßige Treffen mit Schreibwerkstatt, Theater und Filmprojekten. Doch ob die Roma-Community einen solchen Ort der Kreativität und Gemeinschaft braucht, darüber waren sich die Teilnehmerinnen nicht einig.
Zu den Referenten gehörte auch der Fotograf Nino Nihad Pusija. Seit Jahren arbeitet Pusija gegen Roma-Klischees, unter anderem mit der Reihe „Duldung deluxe“. Für diese Arbeit porträtierte er Roma-Jugendliche, die von der Abschiebung aus Deutschland bedroht oder bereits abgeschoben sind. Mit Veronika Patokova betreute Pusija eine Schreib- und Filmwerkstatt mit dem längerfristigen Ziel, ein Drehbuch zu schreiben und zu realisieren.
Die Zukunftswerkstatt forderte auch einen Roma-Familienrat in Berlin. Der Familienrat ist in Roma-Gemeinschaften eine feste Größe. Bei Konflikten werden die Angehörigen zusammengerufen. Man isst und trinkt und verhandelt so lange miteinander, bis eine Lösung gefunden ist. Diese Lösung ist eine für alle Seiten verbindliche Abmachung, deren Missachtung Sanktionen nach sich zieht. Ein allgemeiner Roma-Familienrat könnte dazu beitragen, die Kluft zwischen Roma und der Mehrheitsgesellschaft zu verkleinern und die Bevormundung durch staatliche Behörden zu verringern, so die Hoffnung. Ein Aspekt einer solchen Emanzipation sind Roma, die in Städten wie Berlin und Hamburg zum Teil schon als Schulmediatoren arbeiten.
MARIE-CLAUDE BIANCO
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