: Und gehen die ganze Nacht
Ein großer Roman in zwei Sätzen ■ Von Winfried Roth
Ich sah im Traum eine tote Wüste, schau — hörte ich neben mir eine fremde Stimme — das ist das Jerusalem der Dürstenden und Hungernden, hier erheben sich seine heiligen Mauern und Türme, hier siehst du die Pforten des Paradieses, denn die Pforten des Paradieses sind nur Wirklichkeit in der toten Wüste, — du lügst — sagte ich — die Wüste ist das Grab der Dürstenden und Hungernden — die gleiche Stimme antwortete wieder — hier in der Wüste erheben sich die heiligen Mauern und Türme Jerusalems, in ihr öffnen sich die gewaltigen Pforten des Paradieses vor den Dürstenden und Hungernden, ich wollte noch einmal sagen: du lügst, die Wüste ist nur Wüste, aber ich begriff, daß jene Stimme schon von mir gegangen war...“
Dieser unheilvolle Traum steht am Anfang von Andrzejewskis Roman, einem der faszinierendsten Werke der polnische Nachkriegsliteratur. Die 1963 veröffentlichte Übersetzung von Renate Lachmann ist jetzt in Fischers „Erzähler-Bibliothek“ neu aufgelegt worden.
Pforten des Paradieses handelt vom Kinderkreuzzug des Jahres 1212. Dabei geht es Andrzejewski weniger um die äußeren Ereignisse als um die Träume, die Erinnerung, die religiösen und sexuellen Phantasien der Kinder. Zugleich ist das Buch eine psychologische Studie über Entstehung und Entwicklung totalitärer Massenbewegungen.
Dieser Roman (er erschien in Polen zuerst 1959) gehört zur osteuropäischen „Tauwetterliteratur“, die sich — oft in verschlüsselter Form — in den späten fünfziger Jahren mit dem Stalinismus auseinandersetzte. Jerzy Andrzejewski war erst engagierter Katholik, dann Kommunist und schließlich einer der entschiedensten Kritiker des Stalinismus. Schon die ersten literarischen Veröffentlichungen des 1909 in Warschau Geborenen — von einem undogmatischen Katholizismus geprägt — hatten großen Erfolg. Im zweiten Weltkrieg war er in der Widerstandsbewegung aktiv. Er wurde Mitglied der kommunistischen Partei. Mitte der vierziger Jahre erscheinen die beiden Romane, durch die er auch international bekannt wurde — Die Karwoche (über den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943) und Asche und Diamant (über den politischen Neubeginn 1945). Andrzejewskis literarische Werke weisen kaum Spuren stalinistischer Ästhetik auf. Dennoch — in Reden und journalistischen Beiträgen verherrlichte er den Stalinismus, schließlich wurde er ein gefeierter „Staatsschriftsteller“.
Nach Stalins Tod und der ersten großen Krise des kommunistischen Systems in Polen Mitte der fünfziger Jahre erlebte Andrzejewski eine maßlos politische und persönliche Enttäuschung. In seinem Roman Finsternis bedeckt die Erde, zwei Jahre vor Pforten des Paradieses entstanden, geht es vordergründig um die katholische Inquisition des Mittelalters, im Grunde jedoch um Ideologie und Praxis des Stalinismus. Bis zu seinem Tod 1983 blieb Andrzejewski einer der einflußreichsten Vertreter der Opposition in Polen. Pforten des Paradieses — im Jahre 1212, nachdem bereits vier Kreuzzüge gescheitert sind, brechen in Frankreich einige Tausende Kinder und Jugendliche auf, um nach Palästina zu ziehen. Am Anfang steht die Vision eines Bauernjungen: Anders als den in ihre Sünden verstrickten Kämpfern der ersten Kreuzzüge werde den unschuldigen, unbewaffneten Kindern, durch die Kraft des Glaubens der Sieg über die Moslems zufallen, die Jerusalem und die heiligen Stätten des Christentums seit Jahrhunderten besetzt halten. Der Zug endet in einer Katastrophe. Die meisten Kinder fallen, ohne Palästina überhaupt erreicht zu haben, in die Hände von Sklavenhändlern.
Der Roman ist eine Art Montage aus den Erinnerungen der Jungen und Mädchen, ihren Träumen und Phantasien, die sie einem alten Mönch zu Beginn des Zuges in einer großen Beichte erzählen. In diesen Bruchstücken, die oft übergangslos aufeinanderfolgen, vermischen sich profane und religiöse, sexuelle und visionäre Motive. Immer wieder werden alltägliche Erlebnisse und Träume in magischer Weise interpretiert. Andrzejewski entwirft ein überaus differenziertes und widersprüchliches Bild: Verzweiflung über ein Leben voll Armut und Gewalt steht neben dem Gefühl des Auserwähltseins, religiöse Verzückung neben bloßer Abenteuerlust. Eine fatale Rolle spielt der suggestive Einfluß Erwachsener. Hinzu kommen Freundschaft und Eifersucht, bei den älteren Kindern erste sexuelle Gefühle.
Das Unternehmen der Kinder nimmt rasch Züge einer Massenpsychose an. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie verwischen sich, der Bruch mit allen familiären Bindungen, die Spannungen in ihrer Gemeinschaft, der maßlose Anspruch des Zuges überfordert die Kinder vollkommen. Von der naiven Begeisterung zum kollektiven Wahn und der geradezu triumphalen Absage an alles rationale Denken ist es schließlich nur noch ein kleiner Schritt.
Einige für Andrzejewskis weiteres Schaffen zentrale Themen wie Sexualität, Traum, magisches und wahrhaftes Denken finden sich in Pforten des Pardieses zum ersten Mal — auch eine Folge seiner Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse und der von ihr beeinflußten westeuropäischen Literatur.
Andrzejewski entdeckte hier auch die Freiheit des formalen Experimentierens. Bis dahin war sein Schaffen geprägt von einem äußerst subtilen, aber im Grunde traditionellen Realismus. Sicher wäre — allein schon unter dem formalen Aspekt — ein Buch wie Pforten des Paradieses in den Jahren des polnischen Stalinismus undenkbar gewesen.
Formal ungewöhnlich ist das Buch etwa, weil es aus nur zwei Sätzen besteht — einem unendlich langen (der sich freilich leicht in abgeschlossene Teilsätze auflösen läßt) und dem ganz kurzen Schlußsatz. Der Sprechgestus ist unruhig, oft fast atemlos, als solle so die Bewegung des großen Zuges eine formale Entsprechung finden. Eine seltsam faszinierende Wirkung haben auch Sprachelemente biblischer und liturgischer Texte, mittelalterlicher Heiligenlegenden und Epen, die Andrzejewski in die Erzählung integriert.
Das Thema der positiven Utopie, ihrer Gefährdung, ihres Zerbrechens zieht sich durch Andrzejewskis ganzes Werk. In dem Inquisitionsroman Finsternis bedeckt die Erde und in Pforten des Paradieses geht es vor allem um die Eigendynamik philosophischer und politischer Systeme, den Konflikt zwischen totalitärer Herausforderung und individueller Entscheidung und um die Bereitschaft zur Selbstaufgabe.
Die Geschichte des militanten, offen terroristischen Katholizismus der Inquisation und der Kreuzzüge wurde in diesen Romanen Andrzejewskis zu einer Parabel nicht nur auf den Stalinismus, sondern auf alle Systeme mit totalitärem Anspruch, die keinen Zweifel und keinen Widerspruch zulassen.
Pforten des Paradieses gehört — wie die ganze osteuropäische „Tauwetterliteratur“ — in die lange Reihe literatischer Werke der vierziger und fünfziger Jahre (von Ehrenburg bis Koestler, von Orwell bis Milosz), die den Bruch mit dem Kommunismus der Stalin-Ära zum Thema haben.
„...Alexander hielt noch immer die Hand Jakobs und ging mit ihm durch die Tiefe der Nacht, vom Gesang durchdrungen wie er, als er fühlte, daß die Hand Jakobs zitterte, sagte Alexander, wenn du es befiehlst, werden wir die ganze Nacht hindurch gehen, gehen wir, sagte Jakob.
Und sie gingen die ganze Nacht.“
Jerzy Andrzejewski: Die Pforten des Paradieses. Fischer Taschenbuch Verlag. 9,80 Mark.
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