: Einsamer Cowboy mit Taubenzucht
Im Moviemento und im Notausgang hat Marlon Brando wieder die „Die Faust im Nacken“ ■ Von Christiane Voss
Erstes Bild: ein Standbild in Schwarzweiß, zu sehen ist ein Hafen, Schiffsglocken dröhnen tief, und über die linke Bildhälfte ragt überdimensional ein Schiff. Es sind wahre Mutterschiffe, denn von ihnen leben und ernähren sich sämtliche Dockarbeiter der Gegend.
Die ersten Menschen, die Elia Kazan uns in seinem Film „Die Faust im Nacken“ zeigt, wirken wie winzige Ameisen in diesem Hafenszenario. Die „Ameisen“ entpuppen sich allerdings bald als übermächtige Gewerkschaftsfunktionäre, die mafiosisch und grausam den Hafen und die Arbeiter regieren. Wer nicht für sie ist, ist gegen sie, und damit zu beseitigen.
Daß ausgerechnet Gewerkschaftsmitglieder nach einem solch totalitären Prinzip herrschen, entspringt nicht einer verquast-ideologischen Phantasie Kazans, sondern geht auf Zeitungsartikel zurück, in denen Malcolm Johnson die Mißstände und den Machtmißbrauch an den Docks entlarvte. „Die Faust im Nacken“ ist eine reale Geschichte, und entsprechend verpflichtet Kazan sich auch formal dem Realismus: Nahezu dokumentarisch führt er uns durch die enge Welt ängstlicher Menschen, die nur noch auf ihren Überlebenskampf reduziert sind. In der Masse auf sich selbst zurückgeworfen, will keiner von den underdogs wirklich wissen, warum ihr Leben ist, wie es ist – und daß Ausbeutung von Menschen betrieben wird und kein gottgegebenes Schicksal ist. Die Einsicht aber würde bedeuten, selbst Verantwortung zu übernehmen, und genau davor graust es den Menschen am meisten.
Einer unter ihnen ist anders: Terry Malloy – junger, aber erfolgloser Ex-Boxer, ungebildet, einzelgängerisch, indifferent. Mit seinem Bruder Charley (Rod Steiger) ist er im Waisenheim aufgewachsen, eine Kindheit hat er nie gehabt, und so hat er gelernt, sich von den Menschen abzuwenden. Daß der einsame Cowboy mit seinem Hang zur Taubenzucht dann doch noch zum Hoffnungsträger, Helden und auferstandenen Erlöser werden kann, verdankt er innerhalb der Geschichte seiner Begegnung mit der engelsgleichen Eddie (Eva Marie Saint) und dem gottgesandten Hafenpriester Vater Barry (Karl Malden) – und in Wirklichkeit der hochkarätigen Schauspielkunst Marlon Brandos.
Brando verwandelt Terry von einem unbewußten und blockierten Niemand in eine Figur, die sich um Integrität, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung bemüht. Das steinerne Gesicht weicht unmerklich einer immer differenzierteren Mimik, die Persönlichkeitsstärke vermittelt. Der schützende Schleier über den Augen weicht einem klaren und tiefgründigen Blick, als Terry Schritt für Schritt sich selbst beibringt, seine Umwelt wahrzunehmen und Position zu beziehen.
Daß Terry an seinem schicksalhaften Bestimmungsort – dem Hafen – gelandet ist, verdankt er in doppelter Hinsicht seinem Bruder Charley: Dieser hat sowohl seine Boxerkarriere ruiniert als ihm auch leichte Jobs an den Docks zugespielt, allerdings mit der Auflage, ab und zu einen Dienst für die Mafia zu übernehmen. Gleich der erste „Job“, den Terry für die Mafia erledigen soll, stellt ihn zwischen die Fronten. Noch ehe er die Situation überschaut, ist er in einen Mord verwickelt, den er niemals wollte.
Damit gerät er, wie alle anderen, in den Sog des Kreislaufes unverschuldeter Schuld; doch etwas in ihm widersetzt sich der Perspektive, die alles so notwendig und ausweglos erscheinen läßt. Hat er sich bis jetzt aus Gewohnheit und Konvention mit seinem Bruder solidarisch gefühlt, erkennt Terry immer deutlicher, daß seine wahren Weggefährten Menschen sind, die ihre Seele nicht auch aus Angst für Macht oder Geld verkaufen. Immer kontrastreicher tritt der Unterschied zwischen den Brüdern hervor. Charley, der gelernte Jurist mit der stilvollen Garderobe, ist nunmehr korrumpierter und feiger Erfüllungsgehilfe des Mafiabosses. Terry, der ungebildete Habenichts und Verlierer, avanciert zum Freiheitskämpfer und moralischen Ideal. Den Mut zum Widerstand und Aufbegehren hat er nicht, weil er seine Angst verlieren würde, sondern weil er die Einsicht gewinnt, daß es mehr zu verlieren gibt als das nackte Leben.
Terrys Leben ist im Grunde eine Geschichte der Bekehrung hin zum humanistisch-christlichen Glauben, wenn auch in einer sehr modernen Variante. Eine Totenrede, die Vater Barry anläßlich eines erneuten Mafiamordes hält, verdeutlicht die radikale Bibelauslegung, um die es Kazan geht: Barry predigt den Glauben an sich selbst, er fordert die Gedemütigten und Unterdrückten auf, den „Jesus“ in sich zu realisieren, um endlich das Vertrauen zu gewinnen, das nötig ist, um ins Geschehen einzugreifen und die grausamen Wiederholungen zu stoppen. Es ist zugleich die Initiationszündung für Brandos Märtyrertum: Der nie verstandene Rebell stürzt sich in den ausweglosen Kampf mit Goliath. Für seinen Verrat an der Mafia ächten ihn sogar die eigenen Freunde und alle diejenigen, in deren Namen er sich auf die Seite der Wahrheit gestellt hat. Durchhaltevermögen und Leidens- oder Opferbereitschaft sind am Ende die Mittel, die es ihm ermöglichen, seine „Christianisierung“ erfolgreich durchzusetzen: Blutüberströmt und halbtot – aber dramatisch aufrecht – führt Brando seine Jünger in die Freiheit. Trotz dieser religiösen Überhöhung driftet Brando nie ins platte Pathos oder Selbstgefälligkeit ab. Durch seine ganze Entwicklung hindurch bleibt er unfreiwillig sperriger Außenseiter, der im Grunde bloß versucht, sein Recht auf ein menschenwürdiges Dasein wahrzunehmen.
Da ihm selbst dieser bescheidene Wunsch verwehrt wird, ist er die Identifikationsfigur der Entrechteten und Enterbten, deren Image und Selbstwertgefühl Brando charismatisch zu rehabilitieren versteht. Und das weit über das Kino und die fünfziger Jahre hinaus.
„Die Faust im Nacken“, 1954, Regie: Elia Kazan, Kamera: Boris Kaufmann, Musik: Leonard Bernstein, Darsteller: Marlon Brando, Karl Malden, Lee J. Cobb, Rod Steiger, Pat Henning, Eva Marie Saint. Wiederaufführung im Moviemento und Notausgang.
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